Wilhelm Laage
* 16.05.1868 Stellingen, + 03.01.1930 Ulm
Lebenserinnerungen von Wilhelm Laage


Der Wiedergabe der Lebenserinnerungen, die hier gekürzt auf die wesentlichen Teile erfolgt, liegt die von Ludwig Zoepf 1934 veröffentlichte Fassung zugrunde. Das Originalmanuskript, das Laage 1929 verfaßt hatte, wurde 1945 durch Bomben vernichtet. Dasselbe gilt für die im Anschluß ungekürzt wiedergegebene Niederschrift Laages über seine Holzschnitte aus dem Jahre 1917.
Es entspricht Laages zurückhaltend scheuer Art, wenn er in diesen Erinnerungen sehr wenig Aufschluß gibt über seine eigentliche künstlerische Entwicklung, über Pläne, Erfolge, Begegnungen, Verbindungen oder Freunde. Um so mehr erfahren wir über seine Erlebniswelt aus Kindheit und Jugend, die später zu den wesentlichen Grundlagen seines Schaffens gehören sollte. Die angeschlossene Niederschrift über die Holzschnitte gibt neben wichtigen Hinweisen auf die inneren Voraussetzungen wertvolle Einblicke in seine Technik und das verwendete Material.

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Eine schwarze Katze schlich an einem hellen Frühlingsmorgen über das Schutzdach eines unheimlich tiefen, feuchtwandigen Sots. Sie erregte sogleich mein kindliches Interesse, und in meiner Einfalt ging ich hin, um nach ihr zu fassen. Trotzdem sie für meine Hände unerreichbar, verlor das schlanke schwarze Wesen plötzlich das Gleichgewicht und stürzte in die Tiefe. Erschrocken lief ich nach meiner Mutter ins Haus und rief ihr zu, was da draußen geschehen. Sie eilte mit einem Eimer an den Brunnen, ließ ihn hinunter und zog — daran hängend — die nasse Katze wieder ans Tageslicht. Diese Komödie ereignete sich in Stellingen, am Basselweg, bei einem großen, strohgedeckten Fachwerkhaus, in dem meine Eltern ihre Wohnung hatten. Ich war damals ungefähr drei Jahre alt. So weit reicht die Erinnerung an mein Dasein auf dieser Welt zurück, wachgerufen durch die Katze, die in den Brunnen fiel. Und — die »Schwarze Katze« wurde die treue Begleiterin auf meinem Lebensweg.
Hans Jakob Schlüter und seiner Ehefrau Anna gehörte das oben erwähnte holsteinische Bauernhaus, worin sie mit ihren drei verheirateten Töchtern wohnten; die eine davon war meine Mutter. Hier wurde ich am 16. Mai 1868 geboren.
Als ich das sechste Jahr erreicht hatte, ging es in die Schule. Der erste Schultag verlief ganz ruhig, nur wurde mir die Zeit reichlich lang; denn mein Innerstes verlangte ungestüm nach Freiheit. Der Unterricht nahm anfangs einen einfachen Verlauf, doch wurde er mit den Jahren immer komplizierter. Wenn dann das Erfassen nicht sogleich folgen wollte, so wurde bei jeder Gelegenheit mit dem Rohrstock gerne und ausgiebig nachgeholfen. Ein zum Jähzorn neigender Lehrer taugt nicht als Erzieher.
So beengt ich mich in der Schule fühlte, so frei fühlte ich mich dann zu Hause; frei, weil beide Eltern den ganzen Tag durch ihre Arbeit abwesend waren und meine Geschwister und ich somit über den Tag verfügen konnten, wie es uns gefiel. Die Natur zog mich immer unwiderstehlich an. Durch mein Herumbummeln im Freien ward ich bald mit ihren Schönheiten und Geheimnissen vertraut. Die Felder und Wälder, die Wiesen und Bäche, Heide und Moor, die Knicks und Twieten waren zu jeder Jahreszeit meine Welt. Mein Blick sah und empfand unbewußt alles in der Landschaft, und mein Innerstes nahm das in sich auf, was viel später für mich als Maler von Bedeutung werden sollte.
»Was brennen soll, brennt doch!« sagen die Bauern. Ein heller Blitzstrahl zuckte über einem Backsteinhaus, gleich hinterher loderten die Flammen zum Dache hinaus. Ein Mann, der unter der Dachtraufe vor dem Regen Schutz gesucht, wurde durch den Feuerstrahl getötet. Als kleiner Junge sah ich in der Dämmerung den großen Feuerschein in der Nähe unseres Hauses durch die Bäume leuchten — für mich ein noch nie gesehener Anblick! Mir wurde schwach und übel; totenbleich saß ich vor unserem Hause auf einer Schnitzbank, bis die Mutter mich auslachte und wieder zur Besinnung brachte.
Die Brandruinen mit ihren schwarzen glimmenden wild übereinander liegenden Balken hatten für mich in der Dunkelheit immer etwas Unheimliches; ich fürchtete mich, wenn ich daran vorbei mußte. An solchen Plätzen sah ich Gespenster. Besonders wenn ein schwelender Balkenrest mir eine lange, weiße, vom Wind getriebene Rauchfahne entgegensandte, lief ich wie wild davon. Erblickte ich im Dunkeln einen alten Baumstumpf im Knick, in einer phantastischen Gestalt, dann schlich ich mich ängstlich daran vorbei, wenn es überhaupt mein Mut erlaubte, und ich nicht umkehrte. Eine dunkle Tannengruppe im Nachtwinde ängstigte mich auch. Wenn sie geheimnisvoll rauschend ihr »Huuuisch!« ertönen ließ, glaubte ich, Geister wollten mich in ihr Reich ziehen.
In den Winternächten hatte ich jahrelang eine merkwürdige Erscheinung. Kurz nachdem ich mich im Alkoven zur Ruh gelegt und wachend die gegenüberliegende schräge Wand betrachtete, erschien an dieser ein grimmiger Dämon. Mit weit aufgerissenen Augen in seinem derbknochigen Gesicht, streckte er seine plumpen Arme und Hände mit scharfen Krallen mir entgegen. Langsam, sehr langsam dehnte er sich und wollte auf mich zuschweben, flammenartiges Geriesel umgab ihn. Meine Arme wurden bleiern schwer, diese Schwere drang selbst in meinen Körper. Ich raffte mich auf! — Langsam verschwand die unheimliche Erscheinung.
Im Sommer entfernten wir uns öfters weit von der Wohnung. Mein tollkühner Vetter, mit hellen struppigen Haaren, der mit einem Satz von der Seite den grasenden Kühen auf den Rücken sprang und mit ihnen davonraste, war natürlich auch dabei. Unser Weg führte uns dann an die »Au«, einen breiten, an seinen Krümmungen recht tiefen Bach, worin die Weißfische in der Sonne blinkten. Wir badeten nach Herzenslust, rannten nackt in der Sonne am Ufer dahin und trieben sonst allerlei Kurzweil. Ein langes, stilles Gehölz zog sich an den Bachwiesen entlang. Scheu und vorsichtig schlichen wir uns dort hinein. Eichen, Buchen und hohes Unterholz schoben ihre Zweige dicht über- und ineinander. In der Tiefe lauerte ein starkes Dunkel. Der Boden war mit grünen Kräutern dicht bewachsen. Wir wagten uns nur wenige Schritte hinein, eine unheimliche Stille umgab uns — wir fürchteten sie. In der Ferne schrie ein Kuckuck. Ein Eichhörnchen huschte still von Ast zu Ast. Ein schwarzer Vogel mit gelbem Schnabel verließ flatternd sein Nest. Beängstigend war's in dieser Welt, wir rannten schnell wieder hinaus in den hellen Sonnenschein.
Schwere Gewitter ängstigten uns im Sommer oft stundenlang. Am Tage gelbe Sonne, stechend heiß, selbst die Schatten mit ihrer Glut durchströmend. Gegen Abend überzog geheimnisvoll ein rötlicher Dämmerschein den ganzen Himmel; drohendes schieferfarbiges Dunkel in der Ferne. Helle Wolken wallten und kräuselten hoch durcheinander, zogen erregt übereinander dahin. Kurzer Windstoß! Staubwolken bäumten sich auf und breiteten sich aus. Ein paar Regentropfen klatschten nieder. In der Ferne, hoch in der Luft, leichtes rollendes, hohles Gebrumm. Der Wind wurde zum Sturm! Rasend schnell schossen scharfe Feuerstrahlen in den kühnsten Formen ihre Bahn.

Regen rauschte hernieder, immer stärker. Dichte graugelbe Wassermassen mit weißen Schaumwirbeln strömten daher, alle Vertiefungen füllend. Langgezogenes, knatterndes Getöse, immer wieder, ohne Ruh! Draußen tiefe Nacht, grell erhellt von wilden Blitzen. Sämtliche Hausbewohner saßen die halbe Nacht auf der dunklen »Großen Diele« still beieinander. Nach mehreren Stunden endlich verzog sich das Unwetter, ein grauer Morgen dämmerte herauf. Müde krochen wir dann noch eiligst in unsere Betten.
Der Vater war bis kurz vor seinem Tode in Hamburg als Friedhofgärtner tätig. Er war ein ruhiger Mann mit stillem Humor im Herzen. Die Rosen, Kamelien und Hyazinthen liebte er besonders. Es verstand wohl keiner das Wesen und die Art der Königin der Blumen besser als er. Die Mutter war fast täglich von morgens bis abends in einer Bleicherei beschäftigt. Sie war klein von Gestalt und überaus beweglich, temperamentvoll, mitunter leicht heftig in ihrem Wesen bis zum Jähzorn, besonders wenn ich durch meine Unarten diese ständig um uns treu besorgte, fleißige Frau reizte; sie hatte es nicht immer leicht mit mir. Die Blumenzucht machte ihr große Freude. Sie verstand dadurch unser bescheidenes Heim stets behaglich herzurichten. Untätigkeit konnte sie nicht gut ertragen; sie gab sich dann allerlei trüben Gedanken hin und verlor den Mut, dem harten Leben ins Gesicht zu sehen. Sie liebte das Leben und neigte zum Aberglauben.
Pfingsten, das Fest der ländlichen Freuden, führte jedes Jahr die Bewohner der beiden nahen Städte in Scharen auf das Land. Schon beim Morgengrauen begannen die Wanderungen zu Fuß oder zu Wagen. Ganze Ströme von Menschen ergossen sich in die neu erstandene grünende, blühende Natur. In den Dorfschenken sang, schrie und krakeelte es. Endloser Bier- und Schnapsdunst zog durch die weit offenen Fenster ins Freie. Immer wieder sah man alte und junge Ausflügler, die mit gerötetem Gesicht, den Hut zurückgeschoben, die Jacke unterm Arm, unter krähendem Singsang sich stoßweise, bald links, bald rechts schwankend, auf der Straße fortbewegten. Die großen Wirtshausgärten waren dicht besetzt mit schmausenden Gästen; die Säle überfüllt mit im Tanztakt durcheinanderwogenden Paaren. Der Dunst von Staub und Schweiß vermischte sich mit dem Duft der schnell welkenden blumigen Laubgehänge an Decke und Pfeilern. Die Musik klimperte und fiedelte ununterbrochen alte beliebte Weisen bis spät in die Nacht hinein. Trompetenstöße jagten über die bunte Menschenmenge dahin, hinaus durch die geöffneten Fenster in die von neuer Lebenskraft durchpulste Natur, verflatterten in den fernsten stillen Winkeln und Lauben, aus denen fröhliches Gekicher in die dunkle Nacht sich verlor.
Ein Fußweg, der sogenannte »Kirchenstieg«, führte abwechslungsreich durch Wiesen und Gehölz von Stellingen nach Niendorf. Niendorf war der Sitz einer »Totengilde«, deren Mitglieder in den Dörfern der näheren und weiteren Umgegend wohnten. Alljährlich, an einem Sommersonntag, hielt diese Gilde ihre Hauptsitzung in einem bei der Kirche gelegenen Wirtshaus ab. Vor dem Wirtshaus waren mehrere große Tonnen mit Bier aufgestellt, von dem jedes Mitglied mit seinen Angehörigen unentgeltlich so viel trinken durfte, als es gerade der Durst verlangte. Mit der untergehenden Sonne waren die Fässer bis auf den letzten Tropfen geleert.
Auf der Diele des Wirtshauses, deren Lehmboden an diesen Tagen mit Brettern belegt war, fand eine lustige Tanzerei statt, die bis in die Nacht hinein dauerte. In einer dämmerigen Ecke saßen die Musikanten, die sich durch Klarinette und Brummbaß besonders bemerkbar machten. Es roch nach trocknenden Laubgehängen. Oben vom Hilgen hing das Heu herunter, und die Katzen tanzten darauf nach ihrer Art. Links und rechts der Diele befanden sich die Ställe für das Vieh. Während die lustigen Bauernweisen das Dämmer des improvisierten Tanzsaals durchstachen und sich vermischten mit dem fröhlichen Getue und dem scharrenden Tanzschritt der durcheinanderwirbelnden Paare, hob mitunter eins der edlen Rosse den großen schrägen Deckel einer Futterkrippe und ließ ihn knallend niederfallen.
Inzwischen war ich fünfzehn Jahre alt geworden. Am Palmsonntag 1883 wurde ich in der ehrwürdig-eigenartigen Kirche zu Niendorf konfirmiert.
Nach meiner Schulentlassung galt es, die schönen Gefilde der Kindheit zu verlassen, eine scheidende Mauer schob sich dazwischen. Ich stand nun in der Welt mit ihren harten Wirklichkeiten.
Jetzt hieß es einen Beruf ergreifen; doch womit sollte ich beginnen? Meine Eltern wußten es nicht, so viel und so oft sie darüber nachdachten, und ich noch viel weniger. Aber das Herumbummeln zu Hause mußte ein Ende nehmen. Meine Mutter nahm mich deshalb kurz entschlossen mit in die Bleicherei, um mir wohl damit einen »sauberen Lebensweg« zu zeigen. In einem riesigen Behälter mußte ich die Wäsche spülen. Die feinsten, zartesten Hüllen der Stadtdamen hielt ich in meinen Händen, tauchte sie auf und nieder, bis sie blendend weiß erschienen. Eine riesige Waschmaschine, durch eine Kurbel angetrieben, mußte ich endlos in schaukelnder Bewegung halten. Doch auf die Dauer sagte mir dieser Betrieb nicht zu. Auch körperlich konnte ich das Arbeiten an den Waschmaschinen nicht ertragen. Nach mehreren Wochen verließ ich — im Einverständnis mit der Mutter — die Stätte der Reinigung für immer.
Aber meine Freiheit dauerte nicht lange, ich wurde nach Hamburg in einen großen Wirtshausbetrieb abgeschoben. Acht Jahre der Verbannung begannen jetzt für mich, mit Leiden, Qualen und stillen Freuden, in einem großen, dunklen, fremden Hause. Wirt und Wirtin waren zwei gutherzige ältere Menschen; doch ihr Geschäft ging nur schlecht; sie waren aber vermögend genug, dies zu ertragen. Sonntags und mittwochs große Tanzmusik! Auf den Bällen, die mittwochs stattfanden, erschienen als Damenflor die kleinen und großen, die blonden und dunklen Freundinnen der Aphrodite. Wie die süß duftende Blüte der Nachtviole die Falter lockt, so zog die rassige Musik die Freundinnen herbei, in immer größeren Scharen. Sie herrschten schließlich ganz allein. Drückte die »Sitte« anfangs auch ein Auge zu, es ging nicht mehr, die anderen Mädchen blieben fort und das Lokal kam eine Weile in Verruf. Ein riesiger, hummerartiger Polizist wachte von da an streng am Eingang des Saales, damit nicht eine lockere Blüte, losgelöst vom Baum des bürgerlichen Lebens, sich in das verbotene Reich schlich. Ob es nun nach dem Fortbleiben der Verbannten anständiger herging, konnte ich nicht unterscheiden; jedenfalls war der Betrieb um vieles uninteressanter und lahmer geworden; farbloser rollte das Vergnügen.
Doch das Geschäft mußte wieder in die Höhe gebracht werden; es fehlte eine führende Kraft, besonders in der Küche. Sie erschien! »Jette!« Welch ein Weib! Sie war mit Wirt und Wirtin gut bekannt. »Onkel« und »Tante« wurden sie von ihr genannt. Sie war eckig und lang dazu; ihr Kopf nur klein, mit dünnem Haar, in der Mitte glatt gescheitelt. Knapp unter der Brust setzten schon die flachen Hüften an, darunter sich die langen schlanken Beine spreizten. Wie eine Furie sauste sie im Haus umher, wobei sich dann der viel zu kurze Oberkörper nach vorn neigte. Sie war die Tochter eines ebenso langbeinigen mageren Dorfschlachters im Hannöverschen, der die Kälber umbrachte, solange sie noch zart und weich waren. Unsere eigentliche Herrin verließ vorher das Haus, sie trennte sich von ihrem Manne in Güte. Als in Hamburg die schreckliche Cholera herrschte, wurde sie von dieser Seuche hinweggerafft.
Nun übernahm »Jette« das Regiment. Wagte ein Angestellter sich gegen ihre Anordnungen aufzulehnen oder entstand durch irgendeine Nachlässigkeit oder sonstiges Versehen Verlust im Geschäft, so tobte sie. Besonders wenn man sie noch reizte, ging's bis zur Raserei; sie schreckte selbst vor Tätlichkeiten nicht zurück. Einst wollte sie, im tollen Geschäftsbetrieb im Streite mit einem großen schwarzhaarigen Kellner, sich mit einem langen Messer auf ihn stürzen. Sie klopfte mit dem Messer wütend auf den Tisch und schrie wie besessen. Der Herr saß oben in der Schenke und wurde verlegen über seine tobsüchtige Köchin. Die Gäste aber lachten. Der Alte wurde täglich blasser. Ihr jedoch bekam das Leben immer besser.
Eines Tages erblickte ich ein »richtiges« Ölgemälde: »Wildenten über einem Sumpf« im Schaufenster einer Hamburger Kunsthandlung. Es bannte mich fest — so etwas hatte ich bisher noch nicht gesehen! Der erste Keim zum Berufe des Malers hatte sich in meinem Innern geregt. Felsenfest reifte in mir der Entschluß, Maler zu werden. Jede freie Zeit benutzte ich, um mich im Zeichnen zu üben. Ich kopierte Vorlagen und versuchte nach der Natur zu zeichnen. Im Sommer stand ich morgens um drei Uhr auf und malte in Öl bis um acht Uhr, dann mußte ich im Geschäft erscheinen.
An den freien Sommerabenden stieg ich aus meinem Kammerfenster auf das Dach des vierstöckigen Hauses, ließ mich an einem Schornstein nieder und sah über das Gewirr von Dächern, Häusern und Türmen von Hamburg, die in wunderbarer Spätsonne vor mir lagen. Die Turmschwalben schrillten durch die Luft. Tauben jagten in großen Scharen durcheinander und machten ihren Abendflug. Von unten, aus weiter Ferne, wogte der Lärm der Stadt zu mir herauf. Mein Sehnen und Wünschen wurde in mir lebendig, ich träumte von glücklicheren Zeiten, die ich mir frei gestaltete. Das Verlangen, Maler zu werden, wurde immer stärker in mir. Doch es half mir nichts, das Geschäft, in das ich blindlings hineingeraten, hielt mich mit festen Klauen. Galt es doch, Geld zu verdienen, um meinen gefaßten Plan verwirklichen zu können; es gelang mir erst nach Jahren.
Bei starkem Geschäftsgang im Winter kam ich oft wochenlang nicht aus dem Hause. Alles, was in dieser Verbannung zu mir drang, war das Schreien der Händler von der Straße her oder die lustigen Weisen der Straßenmusik.
Die Kammer, in der wir männlichen Angestellten unser Massenquartier hatten, glich im Sommer einem Backofen und im Winter einem »Eispalast«. Sie hatte, nach der Straße abschließend, eine schräge, nur aus den nackten Dachpfannen bestehende Wand mit einem kleinen Dachfenster. Im Winter bei strenger Kälte waren die Ziegel mit einer dicken weißen Eisschicht überzogen, die des Nachts bei unserem spärlichen Kerzenschein diamantartig glitzerte. Wir schliefen darunter aber so ruhig und fest bis in den Morgen hinein, daß oft eine alte — später dem Irrsinn verfallene — Hausmamsell, gewaltig gegen die Türe polternd, uns aus dem Schlafe schrecken mußte.
Um acht Uhr abends begann der Tanz. Ein mit zwölf Musikern besetztes Orchester eröffnete den Abend mit einem Walzer. Die Welle der Vergnügungslustigen hob sich bald höher und höher; sie brandete gegen den Eingang und schob gewaltige Menschenmassen in den Saal. Dieser füllte sich beängstigend; es wogte und wallte durcheinander wie von einer motorischen Gewalt getrieben. Hitze, Staub, trübes Licht, Gesang und Geschrei zog über und zwischen den Menschen dahin. Der Durst entwickelte sich bei alt und jung der männlichen und weiblichen Teilnehmer in der heißen Stickluft mächtig. Sie tranken, sie schütteten in sich hinein, soviel die Gier des tobenden Vulkans in ihnen verlangte. Angetrunken, schwitzend, mit schiefsitzender Krawatte und aufgerissenen Augen umlagerten sie die Schenke, verlangten schreiend und lallend nach Bier, schlugen mit der Faust, auch mit leeren Gläsern auf den Tisch, daß es knallte und die Scherben flogen. »Bier!« »Bier!« »Bier her!« schrie es unausgesetzt. Wein, Grog, Bier, Punsch und Schnaps taten dann ihre Wirkung. Ein Knäuel von Menschen ballte sich im Saale zusammen: Weiber schrien und kreischten. Ruhigere Männer drangen hinein in diese Masse und versuchten durch gütiges Zureden oder mit Gewalt die Tobenden und Kampfwütigen zu trennen. Sie waren aneinandergekrallt und ließen sich nicht teilen noch bändigen, so stark war die Wut durch den Alkohol in ihnen entfacht. Plötzlich bewegte sich der Knäuel mit einem Ruck vorwärts, Menschen, Tische, Stühle, die in der Nähe standen, auseinander sprengend. Neues Geschrei der Weiber! Ein männlicher Kopf, bleich und blutüberströmt, mit wirrem Haar, taucht aus der Masse auf. Mit abgerissenem Kragen und aufgerissenem Hemd verläßt der Verletzte schließlich den Kampfplatz. Nach dem Schlußwalzer allgemeiner Aufbruch, je nachdem es die Situation noch erlaubte. Die letzten Genossen nahmen ihren Kurs noch nach der Schenke. Bier oder schwarzer Kaffee wurde singend oder johlend verlangt, halb schlafend getrunken. Lallend zog endlich der Rest zur Tür hinaus.
Diese ganze Betätigung war mir gründlich zuwider, ich haßte sie und sehnte mich, aus dem Betrieb hinauszukommen. Aber ich mußte durchhalten, bis ich mir so viel Geld verdient hatte, daß ich die Hamburger Gewerbeschule besuchen könnte. In meinem einundzwanzigsten Lebensjahr kehrte ich endlich der Stätte meiner Qual für immer den Rücken; wie ein aus dem Gefängnis Entlassener kam ich mir vor. Ich war frei! Welch ein Gefühl, jetzt zeichnend mich betätigen zu können!
Ich meldete mich zum Besuch der Gewerbeschule in Hamburg als Tagesschüler. Nun durfte ich ja zeichnen nach Herzenslust, natürlich nur nach Gipsmodellen. Die jüngeren Lehrer, auf einer Kunstgewerbeschule ausgebildet, verfielen meist in Raserei, wenn es galt, den Schülern zu zeigen, wie man es anpackt, um in Guasch oder Aquarell Blumen und Früchte, opalisierende Muscheln, Orangen, grüne und blaue Trauben zu malen. Letztere wurden gegen das Tageslicht gehängt, damit sie farbige Reflexe zeigten.
Unserm alten pedantischen Lehrer W. war diese moderne Lehrmethode ein Greuel. Er haßte diesen »fremden Zug«, wie er sagte; duldete nicht, daß diese Art in seine Klasse getragen wurde. Kam es trotzdem vor, daß einige verwegene Schüler — auch ich — nach solchem Grundsatz arbeiteten, so grollte und polterte er los: »Ja, ich habe es schon lange gemerkt, daß Sie etwas anderes wollen wie ich! Es ist ein fremder Zug in meiner Klasse, ja?!« Waren beim Ölmalen die Farben, wie er meinte, zu dick aufgetragen, so nahm er einen Teil davon mit der Spachtel wieder herunter: »Es geht auch so!« Fehlten die Blumen der Natur, so wurde nach Stoffblumen in Samt und Seide gemalt, Rosen, Winden, Sonnenblumen und dergleichen mehr. Es war auch beliebt, nach »schönen« farbigen Figuren und Büsten zu malen, darunter die bekannten Zigeuner und Beduinenpaare. Sie erhielten ihren Platz in einer Nische, umrankt von Stoffblumen in allen Farben. Mitunter brachte dieser Lehrer des Morgens seinen Regenschirm mit in die Klasse, öffnete diesen über sich — und Blumen, Blätter und Ranken fielen daraus hervor und breiteten sich auf dem Boden aus, die ein Schüler dann zusammenlesen mußte. Sie dienten als »Malobjekt«. Das Zeichnen nach Gipsabgüssen der Antike, besonders die Hände zu zeichnen, machte mir viel zu schaffen. Die ganze Lehrmethode taugte nichts, es war und blieb immer ein Herumraten. Von einem richtigen Anfassen und Vergleichen der Linien, Formen und Flächen zueinander war nie die Rede; das war den Lehrern völlig fremd. Nach einem zweijährigen Unterricht verließ ich die »Schule der guten Unterweisungen«.
Im Frühjahr 1893 ging ich nach Karlsruhe auf die Kunstakademie und wurde in die Gipsklasse von Professor Pötzelberger aufgenommen. Mein neuer Lehrer erkannte sofort mein Pfuschertum und legte mir straffe Zügel an. Jetzt gab es kein Herumraten mehr, Technik und Form bekamen eine feste Grundlage. Vorher »durfte« ich, schmerzlich erstaunt, mein ganzes bisheriges »Können« zum alten Eisen werfen. Ich spürte aber bald an meinen neuen Arbeiten die Früchte des rechten künstlerischen Unterrichts. Meine erste Reise von Hamburg nach Süddeutschland war ein großes Ereignis. Als ich von der Heimat im Frühjahr abfuhr, rührten sich höchstens ein paar Knospen an Busch und Baum. Schon bei Frankfurt am Main aber überraschten mich blühende Syringen. Und als ich nach endloser, ermüdender Fahrt im Bummelzug vierter Klasse in Karlsruhe eintraf, standen die Bäume dort vollbelaubt im frischen Grün. Die Städte, die Dörfer, die Berge, die Weingärten und das heitere »südliche« Klima, alles wirkte stark und neu auf mich. Anfangs konnte ich mich an die fremde stille Stadt nicht gewöhnen. Ihr Tun und Treiben war mir ungewohnt; mager, anspruchslos und dürftig erschien mir ihre Seele — vielleicht auch gesehen und empfunden durch meinen gleichgestimmten Geldbeutel, den ich mitgebracht. Hier muß ich voll Dankbarkeit Pastor Peterssen von Stellingen gedenken, der immer wieder Rat wußte, wenn mein Geld trotz aller Sparsamkeit zu Ende war.
In den Sommerferien fuhr ich wieder zurück nach Stellingen. Von Frankfurt ab sorgten einige herumreisende Musikanten mit Drehorgel oder Ziehharmonika für Abwechslung im Zug. Ein bleiches, langgewachsenes mageres Mädchen, in abgetragenem grauem Mantel, kam in unseren Wagen, warf die unscheinbare Hülle ab und begann in rotem Trikot als Schlangenmensch seine Kunst zu zeigen. Ermüdet langte ich endlich wieder zu Hause an. Die Natur hatte sich inzwischen auch dort prächtig entwickelt. Vor unserem Haus zog sich eine lange, sehr dichte Weißdornhecke hin, die überhangen war mit dem schneeigen Weiß ihrer unzähligen Blüten. Beim Anblick dieser Rassigkeit und Bejahung in ihrem Sein und Leben überfiel mich plötzlich ein elender Katzenjammer; so leer kam ich mir vor als wiedererstandener, neugebackener Karlsruher Gipsschüler.
Einige Jahre später machte ich dann meine Studienreisen nach Cuxhaven oder Altenwalde. Diese interessante Ecke an der Nordsee mit ihren Watten, Marschen, Geest und Heide zog mich viele Jahre immer wieder an. Dort, wo die dunkle See mit weißgerandeten Wellen aufschäumt gegen das Granitgestein der Deiche, dort, an dieser Küste, fühlte ich mich frei und glücklich. Die Sehnsucht glitt traumhaft über die endlose Wasserfläche gegen den Horizont, auf dem sie, weiterschwingend, fremde Länder entstehen ließ, voller Schönheit und Schrecken — — Ein aufkommender Sturm verjagte alle Träumerei. Er warf sich mit rasender Wut gegen seine Opfer, griff mit scharfen Krallen in die Takelung der Schiffe, zerriß die Segel in formenreiche Fetzen, daß sie wie Triumphfahnen knallend an den Masten flatterten. Er trieb die umherirrenden Schiffe auf die Sandbänke oder zog sie für immer in die Tiefe. Leuchttürme und Leuchtfeuer sandten ihren Lichtschein warnend in die Nacht hinaus. Windstille — Luft und Wasser eine ineinanderruhende, endlose, graue Geisterwelt. Ein kurzer schmatzender Laut im Wasser: ein schwarzer Kopf, mit großen fragenden Augen taucht hervor, langsam verschwindet er wieder, kreisende Ringe überdecken seine Spur — — In einer finsteren, verhängten Herbstnacht plötzlich ein rötlich-heller Schein im Osten. »Feuer! — Auf einem Hof im Moor!« riefen die Bauern von Altenwalde. Schnell entschlossen eilten auch wir durch die schwarze, fast weglose Heide, die bald von dem Feuerschein vor uns schwach überstrahlt wurde, und nach einer Stunde erreichten wir den grell durch die Bäume lodernden, von schwarzen Gestalten umstandenen Brandplatz. Aus der schon zusammengestürzten Scheune ragten freistehend nur noch zwei riesige, gelb-, rot- und blauglimmende Heuhaufen hervor; als schwarzes Nichts umgab die Nacht das Ganze. Vor dem Hause, auf dessen Dach die Flammen flackerten und brausten, standen Obstbäume mit Früchten, die durch die Hitze des Feuers braun angebraten waren. Das Feuer, das auf dem Dach und Boden des Wohnhauses wütete, bohrte sich seinen Weg durch die Decke des Wohnzimmers, löste den Gipsverputz derselben, der nun in größeren Massen an den Drähten hin- und herpendelte. Die Flammen ergriffen einen altertümlichen Schrank, sprengten die Türen, und mit Geklirr stürzte das Glas- und Porzellangeschirr heraus auf den Boden. Nach kurzer Zeit stand der Fußboden in Flammen. Gierig näherten sie sich einem rotgepolsterten Sofa, im Nu war die schöne Ruhestatt ein wildes Feuermeer, aus dem schwarze Rauchwolken empor wallten und die an der Wand hängenden Bilder mit ihrem Dunkel einhüllten. Sie wurden durch die Hitze vollständig zerstört und lösten sich von den Wänden. Das bekannte Öldruckbild »Christus mit der Dornenkrone«, das über dem Sofa hing, blieb fast unversehrt. Nachdem das verrußte Glas durch die Hitze zersprungen und aus dem Rahmen gefallen war, sank plötzlich die Glut darunter zusammen und erlöschte. Der Besitzer des Gehöftes, ein großer, älterer, herb dareinschauender Bauer, ging, hemdsärmelig, gestützt auf einen Harkenstiel, langsam vor dem brennenden Hause hin und her. Meer und Heide waren die Welt, aus der ich jahrelang meine künstlerische Anregung holte. Ob Sonne, ob Wind, ob Sturm und Gewitter, Nebel oder Regen — ich empfand mich eins mit dieser Natur und vernahm in ihren seelischen Regungen die Stimme der Heimat zugleich. Im Oktober fuhr ich wieder nach Karlsruhe, um dort weiterzustudieren. Von Hamburg nach Karlsruhe — ein weiter Weg! Welch eine öde Stadt und die gähnend langen leeren Straßen! Warum ging ich eigentlich nach Karlsruhe? Es war wohl nur die Tradition. Und doch: Professor Pötzelberger, er wußte erstaunlich viel, und in seiner Kunst überragte er alle: »Ja«, sagte er, »Sie müssen halt groß anschauen lernen!« Oder: »Sie sehen es kaum, aber doch ist es da!« Er meinte die anatomischen Rätsel am Akt. Da waren dann einige Kollegen, die den »anatomischen Rätseln« der Stadt einiges Leben gaben, begeisterte Kunstjünger, heiße Verfechter der deutschen und der französischen Impressionisten, sowohl der Maler wie der Dichter. Mit welcher Begeisterung wurden die Dramen von Hauptmann, von Arno Holz und Schlaf, von Strindberg, Hamsun und den großen Russen gelesen! Jakobsen mit seinem »Nils Lyhne« begeisterte mich und versetzte mich in eine erhabene Festtagsstimmung. Das gesellige, kameradschaftliche Verhältnis, in dem wir Schüler zu unserem guten Grafen Kalckreuth standen, war wohl mit das Schönste, was wir in Karlsruhe und auch später noch in Stuttgart hatten. Die Zusammenkünfte in seinem gastlichen Haus sind mir unvergeßlich. Er war nie ein Spielverderber und glücklich, wenn er an der Fröhlichkeit der Jugend teilnehmen konnte. Die Fest- und Trinkgelage unter seiner Leitung hatten Schwung, durchpulst von künstlerischem Empfinden. Nach mehrjähriger Tätigkeit in Karlsruhe wurde Kalckreuth als Lehrer an die Akademie nach Stuttgart berufen. Seine Schüler gingen mit ihm, darunter auch ich als sogenannter »Meisterschüler«. So kam ich ins Schwabenland.
Vom Dezember 1900 bis Mai 1901 war ich mit meinem Freunde und Kollegen A. in Paris und im Frühjahr 1914 noch einmal auf einige Wochen als Gast bei einem Schweizer Freunde. Die Stadt war mir gleich beim ersten Betreten vertraut, als ob ich schon viele Jahre in ihr gelebt. Nichts in ihr wirkte auf mich fremd, nur alles neu. Mit ihren Kunstschätzen, besonders des Louvre, wurde sie für mich ein Erlebnis. Die Fresken von Puvis de Chavannes im Pantheon, in ihrer hohen, schlichten Art, mit der sie sich besonders in den Farben dem Sandstein der Architektur so herrlich anschließen und diese farbig weiterführen und beleben, begeisterten mich immer wieder. Darf ich diesen Eindruck, den ich damals hatte, noch heute laut verkünden? Und daß die ganze seelische Kraft durch das Kolorit in Chavannes »Armem Fischer« (im Musée de Luxembourg) auf mich überströmte und meine Gedanken gewaltig hinzog nach der Heide am Meer der Heimat und diese in seiner Ausdrucksweise vor mir erstehen ließ? Das Verlangen, das Meer an der Nordküste Frankreichs zu sehen, wurde in mir immer leidenschaftlicher; doch es fehlte das Geld für die Reise. Die ewige Geldnot schlug mir oft die Sicherung aus meiner Lebensleitung, und diese wurde dadurch unterbunden. Nur Rouen und seine Kathedrale mit dem herben, harten und rauhen Gesicht der Inquisition in ihrem gewaltigen Innern und den zu Stein gewordenen flehenden Seelen ihrer aufsteigenden Mauern durfte ich erleben. Ja, die Nordsee war nicht mehr weit, ich hörte im Geiste sie schon rauschen und spürte ihren Salzgeruch.
In einem Atelierhaus, Rue Leclercs, befand sich auch meine Bude, mit dem Atelier in einem Raum vereint. Ein Aufbau über der Treppe, der meterhoch in eine Ecke meines Ateliers hineinragte, diente als Podium für das Modell und als Waschtisch zugleich. Die Italiener kamen in ganzen Familien, vom Säugling bis zum greisen Großpapa — und boten sich zum »Posen« an. Unter den Männern gab es interessante Menschen. Die Weiber waren meistens etwas reichlich dunkel patiniert. Der Inhalt einer Sardinenbüchse, mit vielem Weißbrot zu einem dicken Stampf verarbeitet, diente ihnen oft als Mittagessen. Den guten Kanonenofen in der Ecke, dessen endlos zusammengesetztes Rohr oben in der hohen Decke mündete, hatten wir für sechs Franken auf dem Montmartre in einem elenden Zustand bekommen, Nur eine handbreite unbeschädigte Stelle in dem Riß, der um seinen schwachen Körper lief, rettete ihn vordem Auseinanderfallen. Ein Kohlenfeuer in ihm versetzte ihn gleich in Wut; er glich dann mit seinen krummen Beinen einem glühenden Mops, der die Zähne bleckte. Im erkalteten Zustand diente dieses Ungetüm auch als Staffelei; das Bild wurde einfach auf den niedrigen Ofen gestellt und mit seiner Rückseite gegen das nicht enden wollende Rohr gelehnt; so malte es sich nicht übel. Mein Bild »Die Heide«, auf der Oldenburger Ausstellung mit der silbernen Medaille ausgezeichnet, entstand auf dieser »Staffelei«.
Im Jahr 1901 war die erste große Van-Gogh-Ausstellung bei Bernheim in Paris. Welch ein Ereignis! Wer wußte denn in Paris, geschweige in Deutschland, etwas von diesem eigenartigen Meister? Leider waren wohl die dunklen Ausstellungsräume für diese Arbeiten nicht besonders geeignet, denn sie machten einen stumpfen, fremden Eindruck. Bilder, die ich später in Deutschland sah, strömten die ganze Helligkeit aus, die ihnen ihr Schöpfer, mit fieberhafter Hingabe an die Natur, zu geben verstand.

In einem Vorraum dann, eine von Renoir gemalte, lebensgroße, in weißen Mull gekleidete Französin; ihr Körper atmete scheinbar unter dieser zarten Hülle. Welch eine Malkultur in diesem Bild!
Von meinem Pariser Aufenthalt zurückgekehrt, arbeitete ich noch einige Jahre als Kalckreuth-Schüler in Stuttgart. So bedeutend Kalckreuth als Künstler war, so wenig hatte er als Lehrer die Gabe, seine Schüler zu leiten und sich ihnen mitzuteilen; da versagte er ganz. Er ließ sie deshalb auch arbeiten, wie sie es für richtig hielten; dadurch wurden sie gezwungen, sich bald selbständig einen eigenen Weg zu suchen, mochte er auch aussehen wie er wollte. Kalckreuth war glücklich, wenn er dann auf diesem Weg einer interessanten Erscheinung begegnete. Diese Methode hatte schließlich auch ihr Gutes.
Auf einem Alpenfest in Stuttgart lernte ich im Februar 1903 meine Frau kennen, eine geborene Reutlingerin; an Pfingsten verlobten wir uns und am 19. Mai 1904 war die Hochzeit. Nord und Süd konnten sich nicht glücklicher verbinden. Wieder begann ein neues Leben, in dem helles Glück und schwere, grausame Schicksalsschläge miteinander wechselten. Wir zogen gleich nach Cuxhaven und lebten dort einige Jahre. Ich zeichnete viel an der See und auf dem Vorland; fast täglich war ich draußen. Das Meer mit seinen Linien und Bewegungen erschien mir anfangs ganz unentwirrbar für die Kunst. Doch nach einiger Zeit erkannte ich auch darin den großen Organismus und Rhythmus in den Formen, wenn es sich auch noch so wild gebärdete.
Der Winter mit dem Schnee am Ufer der dunklen Wasserfläche und später das Treibeis auf der Elbe, wenn es durch die Strömung zischend hin- und hergeschoben wurde, waren sicher interessant. Doch mit der Zeit ertrug ich das Klima nicht mehr. Der ewige Sturm, besonders im Winter, beunruhigte mich, und der dicke, gelbliche Nebel lastete auf mir.
Kurz entschlossen zogen wir 1907, vermehrt inzwischen durch unsern Buben, nach Süddeutschland und ließen uns zuerst in Betzingen, dann in Reutlingen nieder. Nun plötzlich in einer ganz andern Welt! — Im Sommer zog es mich immer wieder nach Cuxhaven und Altenwalde. Seit Jahren war ich mit dieser Landschaft innerlich verwachsen, und ihr Gesicht verfolgte mich ständig an meinem Wohnort im Süden.
Der Krieg mit seinen harten Folgen brachte es dann mit sich, daß ich auf die jährliche Reise nach dem geliebten Norden verzichten mußte. Dafür lernte ich die »Schwäbische Alb« kennen, die ich im Ölbild, in der Zeichnung und im Holzschnitt wiederzugeben suchte und suche. Die Alb wartet jetzt noch auf ihren Meister, der sich ihr nähert, rein und unverbildet, ohne eine fertige Manier, die er mitbringt, um sie damit einzufangen und im Bilde zu gestalten. Sie ist viel zu groß und erhaben in Linie und Fläche, eigen in ihrer geheimen Sprache; schroff, abweisend und verschlossen gegen Alltäglichkeiten im Erfassen und Empfinden.

Aus: Alfred Hagenlocher -
"Wilhelm Laage, Das graphische Werk"
Mit freundlicher Genehmigung von Frau Dr. Wagner

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