Der Wiedergabe der Lebenserinnerungen, die hier gekürzt
auf die wesentlichen Teile erfolgt, liegt die von Ludwig Zoepf 1934 veröffentlichte
Fassung zugrunde. Das Originalmanuskript, das Laage 1929 verfaßt
hatte, wurde 1945 durch Bomben vernichtet. Dasselbe gilt für die im
Anschluß ungekürzt wiedergegebene Niederschrift Laages über
seine Holzschnitte aus dem Jahre 1917.
Es entspricht Laages zurückhaltend scheuer Art, wenn er in diesen
Erinnerungen sehr wenig Aufschluß gibt über seine eigentliche
künstlerische Entwicklung, über Pläne, Erfolge, Begegnungen,
Verbindungen oder Freunde. Um so mehr erfahren wir über seine Erlebniswelt
aus Kindheit und Jugend, die später zu den wesentlichen Grundlagen
seines Schaffens gehören sollte. Die angeschlossene Niederschrift
über die Holzschnitte gibt neben wichtigen Hinweisen auf die inneren
Voraussetzungen wertvolle Einblicke in seine Technik und das verwendete
Material.
*
Eine schwarze Katze schlich an einem hellen Frühlingsmorgen über
das Schutzdach eines unheimlich tiefen, feuchtwandigen Sots. Sie erregte
sogleich mein kindliches Interesse, und in meiner Einfalt ging ich hin,
um nach ihr zu fassen. Trotzdem sie für meine Hände unerreichbar,
verlor das schlanke schwarze Wesen plötzlich das Gleichgewicht und
stürzte in die Tiefe. Erschrocken lief ich nach meiner Mutter ins
Haus und rief ihr zu, was da draußen geschehen. Sie eilte mit einem
Eimer an den Brunnen, ließ ihn hinunter und zog — daran hängend
— die nasse Katze wieder ans Tageslicht. Diese Komödie ereignete sich
in Stellingen, am Basselweg, bei einem großen, strohgedeckten Fachwerkhaus,
in dem meine Eltern ihre Wohnung hatten. Ich war damals ungefähr drei
Jahre alt. So weit reicht die Erinnerung an mein Dasein auf dieser Welt
zurück, wachgerufen durch die Katze, die in den Brunnen fiel. Und
— die »Schwarze Katze« wurde die treue Begleiterin auf meinem
Lebensweg.
Hans Jakob Schlüter und seiner Ehefrau Anna gehörte das oben
erwähnte holsteinische Bauernhaus, worin sie mit ihren drei verheirateten
Töchtern wohnten; die eine davon war meine Mutter. Hier wurde ich
am 16. Mai 1868 geboren.
Als ich das sechste Jahr erreicht hatte, ging es in die Schule. Der
erste Schultag verlief ganz ruhig, nur wurde mir die Zeit reichlich lang;
denn mein Innerstes verlangte ungestüm nach Freiheit. Der Unterricht
nahm anfangs einen einfachen Verlauf, doch wurde er mit den Jahren immer
komplizierter. Wenn dann das Erfassen nicht sogleich folgen wollte, so
wurde bei jeder Gelegenheit mit dem Rohrstock gerne und ausgiebig nachgeholfen.
Ein zum Jähzorn neigender Lehrer taugt nicht als Erzieher.
So beengt ich mich in der Schule fühlte, so frei fühlte ich
mich dann zu Hause; frei, weil beide Eltern den ganzen Tag durch ihre Arbeit
abwesend waren und meine Geschwister und ich somit über den Tag verfügen
konnten, wie es uns gefiel. Die Natur zog mich immer unwiderstehlich an.
Durch mein Herumbummeln im Freien ward ich bald mit ihren Schönheiten
und Geheimnissen vertraut. Die Felder und Wälder, die Wiesen und Bäche,
Heide und Moor, die Knicks und Twieten waren zu jeder Jahreszeit meine
Welt. Mein Blick sah und empfand unbewußt alles in der Landschaft,
und mein Innerstes nahm das in sich auf, was viel später für
mich als Maler von Bedeutung werden sollte.
»Was brennen soll, brennt doch!« sagen die Bauern. Ein
heller Blitzstrahl zuckte über einem Backsteinhaus, gleich hinterher
loderten die Flammen zum Dache hinaus. Ein Mann, der unter der Dachtraufe
vor dem Regen Schutz gesucht, wurde durch den Feuerstrahl getötet.
Als kleiner Junge sah ich in der Dämmerung den großen Feuerschein
in der Nähe unseres Hauses durch die Bäume leuchten — für
mich ein noch nie gesehener Anblick! Mir wurde schwach und übel; totenbleich
saß ich vor unserem Hause auf einer Schnitzbank, bis die Mutter mich
auslachte und wieder zur Besinnung brachte.
Die Brandruinen mit ihren schwarzen glimmenden wild übereinander
liegenden Balken hatten für mich in der Dunkelheit immer etwas Unheimliches;
ich fürchtete mich, wenn ich daran vorbei mußte. An solchen
Plätzen sah ich Gespenster. Besonders wenn ein schwelender Balkenrest
mir eine lange, weiße, vom Wind getriebene Rauchfahne entgegensandte,
lief ich wie wild davon. Erblickte ich im Dunkeln einen alten Baumstumpf
im Knick, in einer phantastischen Gestalt, dann schlich ich mich ängstlich
daran vorbei, wenn es überhaupt mein Mut erlaubte, und ich nicht umkehrte.
Eine dunkle Tannengruppe im Nachtwinde ängstigte mich auch. Wenn sie
geheimnisvoll rauschend ihr »Huuuisch!« ertönen ließ,
glaubte ich, Geister wollten mich in ihr Reich ziehen.
In den Winternächten hatte ich jahrelang eine merkwürdige
Erscheinung. Kurz nachdem ich mich im Alkoven zur Ruh gelegt und wachend
die gegenüberliegende schräge Wand betrachtete, erschien an dieser
ein grimmiger Dämon. Mit weit aufgerissenen Augen in seinem derbknochigen
Gesicht, streckte er seine plumpen Arme und Hände mit scharfen Krallen
mir entgegen. Langsam, sehr langsam dehnte er sich und wollte auf mich
zuschweben, flammenartiges Geriesel umgab ihn. Meine Arme wurden bleiern
schwer, diese Schwere drang selbst in meinen Körper. Ich raffte mich
auf! — Langsam verschwand die unheimliche Erscheinung.
Im Sommer entfernten wir uns öfters weit von der Wohnung. Mein
tollkühner Vetter, mit hellen struppigen Haaren, der mit einem Satz
von der Seite den grasenden Kühen auf den Rücken sprang und mit
ihnen davonraste, war natürlich auch dabei. Unser Weg führte
uns dann an die »Au«, einen breiten, an seinen Krümmungen
recht tiefen Bach, worin die Weißfische in der Sonne blinkten. Wir
badeten nach Herzenslust, rannten nackt in der Sonne am Ufer dahin und
trieben sonst allerlei Kurzweil. Ein langes, stilles Gehölz zog sich
an den Bachwiesen entlang. Scheu und vorsichtig schlichen wir uns dort
hinein. Eichen, Buchen und hohes Unterholz schoben ihre Zweige dicht über-
und ineinander. In der Tiefe lauerte ein starkes Dunkel. Der Boden war
mit grünen Kräutern dicht bewachsen. Wir wagten uns nur wenige
Schritte hinein, eine unheimliche Stille umgab uns — wir fürchteten
sie. In der Ferne schrie ein Kuckuck. Ein Eichhörnchen huschte still
von Ast zu Ast. Ein schwarzer Vogel mit gelbem Schnabel verließ flatternd
sein Nest. Beängstigend war's in dieser Welt, wir rannten schnell
wieder hinaus in den hellen Sonnenschein.
Schwere Gewitter ängstigten uns im Sommer oft stundenlang. Am
Tage gelbe Sonne, stechend heiß, selbst die Schatten mit ihrer Glut
durchströmend. Gegen Abend überzog geheimnisvoll ein rötlicher
Dämmerschein den ganzen Himmel; drohendes schieferfarbiges Dunkel
in der Ferne. Helle Wolken wallten und kräuselten hoch durcheinander,
zogen erregt übereinander dahin. Kurzer Windstoß! Staubwolken
bäumten sich auf und breiteten sich aus. Ein paar Regentropfen klatschten
nieder. In der Ferne, hoch in der Luft, leichtes rollendes, hohles Gebrumm.
Der Wind wurde zum Sturm! Rasend schnell schossen scharfe Feuerstrahlen
in den kühnsten Formen ihre Bahn.
Regen rauschte hernieder, immer stärker. Dichte graugelbe Wassermassen
mit weißen Schaumwirbeln strömten daher, alle Vertiefungen füllend.
Langgezogenes, knatterndes Getöse, immer wieder, ohne Ruh! Draußen
tiefe Nacht, grell erhellt von wilden Blitzen. Sämtliche Hausbewohner
saßen die halbe Nacht auf der dunklen »Großen Diele«
still beieinander. Nach mehreren Stunden endlich verzog sich das Unwetter,
ein grauer Morgen dämmerte herauf. Müde krochen wir dann noch
eiligst in unsere Betten.
Der Vater war bis kurz vor seinem Tode in Hamburg als Friedhofgärtner
tätig. Er war ein ruhiger Mann mit stillem Humor im Herzen. Die Rosen,
Kamelien und Hyazinthen liebte er besonders. Es verstand wohl keiner das
Wesen und die Art der Königin der Blumen besser als er. Die Mutter
war fast täglich von morgens bis abends in einer Bleicherei beschäftigt.
Sie war klein von Gestalt und überaus beweglich, temperamentvoll,
mitunter leicht heftig in ihrem Wesen bis zum Jähzorn, besonders wenn
ich durch meine Unarten diese ständig um uns treu besorgte, fleißige
Frau reizte; sie hatte es nicht immer leicht mit mir. Die Blumenzucht machte
ihr große Freude. Sie verstand dadurch unser bescheidenes Heim stets
behaglich herzurichten. Untätigkeit konnte sie nicht gut ertragen;
sie gab sich dann allerlei trüben Gedanken hin und verlor den Mut,
dem harten Leben ins Gesicht zu sehen. Sie liebte das Leben und neigte
zum Aberglauben.
Pfingsten, das Fest der ländlichen Freuden, führte jedes
Jahr die Bewohner der beiden nahen Städte in Scharen auf das Land.
Schon beim Morgengrauen begannen die Wanderungen zu Fuß oder zu Wagen.
Ganze Ströme von Menschen ergossen sich in die neu erstandene grünende,
blühende Natur. In den Dorfschenken sang, schrie und krakeelte es.
Endloser Bier- und Schnapsdunst zog durch die weit offenen Fenster ins
Freie. Immer wieder sah man alte und junge Ausflügler, die mit gerötetem
Gesicht, den Hut zurückgeschoben, die Jacke unterm Arm, unter krähendem
Singsang sich stoßweise, bald links, bald rechts schwankend, auf
der Straße fortbewegten. Die großen Wirtshausgärten waren
dicht besetzt mit schmausenden Gästen; die Säle überfüllt
mit im Tanztakt durcheinanderwogenden Paaren. Der Dunst von Staub und Schweiß
vermischte sich mit dem Duft der schnell welkenden blumigen Laubgehänge
an Decke und Pfeilern. Die Musik klimperte und fiedelte ununterbrochen
alte beliebte Weisen bis spät in die Nacht hinein. Trompetenstöße
jagten über die bunte Menschenmenge dahin, hinaus durch die geöffneten
Fenster in die von neuer Lebenskraft durchpulste Natur, verflatterten in
den fernsten stillen Winkeln und Lauben, aus denen fröhliches Gekicher
in die dunkle Nacht sich verlor.
Ein Fußweg, der sogenannte »Kirchenstieg«, führte
abwechslungsreich durch Wiesen und Gehölz von Stellingen nach Niendorf.
Niendorf war der Sitz einer »Totengilde«, deren Mitglieder
in den Dörfern der näheren und weiteren Umgegend wohnten. Alljährlich,
an einem Sommersonntag, hielt diese Gilde ihre Hauptsitzung in einem bei
der Kirche gelegenen Wirtshaus ab. Vor dem Wirtshaus waren mehrere große
Tonnen mit Bier aufgestellt, von dem jedes Mitglied mit seinen Angehörigen
unentgeltlich so viel trinken durfte, als es gerade der Durst verlangte.
Mit der untergehenden Sonne waren die Fässer bis auf den letzten Tropfen
geleert.
Auf der Diele des Wirtshauses, deren Lehmboden an diesen Tagen mit
Brettern belegt war, fand eine lustige Tanzerei statt, die bis in die Nacht
hinein dauerte. In einer dämmerigen Ecke saßen die Musikanten,
die sich durch Klarinette und Brummbaß besonders bemerkbar machten.
Es roch nach trocknenden Laubgehängen. Oben vom Hilgen hing das Heu
herunter, und die Katzen tanzten darauf nach ihrer Art. Links und rechts
der Diele befanden sich die Ställe für das Vieh. Während
die lustigen Bauernweisen das Dämmer des improvisierten Tanzsaals
durchstachen und sich vermischten mit dem fröhlichen Getue und dem
scharrenden Tanzschritt der durcheinanderwirbelnden Paare, hob mitunter
eins der edlen Rosse den großen schrägen Deckel einer Futterkrippe
und ließ ihn knallend niederfallen.
Inzwischen war ich fünfzehn Jahre alt geworden. Am Palmsonntag
1883 wurde ich in der ehrwürdig-eigenartigen Kirche zu Niendorf konfirmiert.
Nach meiner Schulentlassung galt es, die schönen Gefilde der Kindheit
zu verlassen, eine scheidende Mauer schob sich dazwischen. Ich stand nun
in der Welt mit ihren harten Wirklichkeiten.
Jetzt hieß es einen Beruf ergreifen; doch womit sollte ich beginnen?
Meine Eltern wußten es nicht, so viel und so oft sie darüber
nachdachten, und ich noch viel weniger. Aber das Herumbummeln zu Hause
mußte ein Ende nehmen. Meine Mutter nahm mich deshalb kurz entschlossen
mit in die Bleicherei, um mir wohl damit einen »sauberen Lebensweg«
zu zeigen. In einem riesigen Behälter mußte ich die Wäsche
spülen. Die feinsten, zartesten Hüllen der Stadtdamen hielt ich
in meinen Händen, tauchte sie auf und nieder, bis sie blendend weiß
erschienen. Eine riesige Waschmaschine, durch eine Kurbel angetrieben,
mußte ich endlos in schaukelnder Bewegung halten. Doch auf die Dauer
sagte mir dieser Betrieb nicht zu. Auch körperlich konnte ich das
Arbeiten an den Waschmaschinen nicht ertragen. Nach mehreren Wochen verließ
ich — im Einverständnis mit der Mutter — die Stätte der Reinigung
für immer.
Aber meine Freiheit dauerte nicht lange, ich wurde nach Hamburg in
einen großen Wirtshausbetrieb abgeschoben. Acht Jahre der Verbannung
begannen jetzt für mich, mit Leiden, Qualen und stillen Freuden, in
einem großen, dunklen, fremden Hause. Wirt und Wirtin waren zwei
gutherzige ältere Menschen; doch ihr Geschäft ging nur schlecht;
sie waren aber vermögend genug, dies zu ertragen. Sonntags und mittwochs
große Tanzmusik! Auf den Bällen, die mittwochs stattfanden,
erschienen als Damenflor die kleinen und großen, die blonden und
dunklen Freundinnen der Aphrodite. Wie die süß duftende Blüte
der Nachtviole die Falter lockt, so zog die rassige Musik die Freundinnen
herbei, in immer größeren Scharen. Sie herrschten schließlich
ganz allein. Drückte die »Sitte« anfangs auch ein Auge
zu, es ging nicht mehr, die anderen Mädchen blieben fort und das Lokal
kam eine Weile in Verruf. Ein riesiger, hummerartiger Polizist wachte von
da an streng am Eingang des Saales, damit nicht eine lockere Blüte,
losgelöst vom Baum des bürgerlichen Lebens, sich in das verbotene
Reich schlich. Ob es nun nach dem Fortbleiben der Verbannten anständiger
herging, konnte ich nicht unterscheiden; jedenfalls war der Betrieb um
vieles uninteressanter und lahmer geworden; farbloser rollte das Vergnügen.
Doch das Geschäft mußte wieder in die Höhe gebracht
werden; es fehlte eine führende Kraft, besonders in der Küche.
Sie erschien! »Jette!« Welch ein Weib! Sie war mit Wirt und
Wirtin gut bekannt. »Onkel« und »Tante« wurden
sie von ihr genannt. Sie war eckig und lang dazu; ihr Kopf nur klein, mit
dünnem Haar, in der Mitte glatt gescheitelt. Knapp unter der Brust
setzten schon die flachen Hüften an, darunter sich die langen schlanken
Beine spreizten. Wie eine Furie sauste sie im Haus umher, wobei sich dann
der viel zu kurze Oberkörper nach vorn neigte. Sie war die Tochter
eines ebenso langbeinigen mageren Dorfschlachters im Hannöverschen,
der die Kälber umbrachte, solange sie noch zart und weich waren. Unsere
eigentliche Herrin verließ vorher das Haus, sie trennte sich von
ihrem Manne in Güte. Als in Hamburg die schreckliche Cholera herrschte,
wurde sie von dieser Seuche hinweggerafft.
Nun übernahm »Jette« das Regiment. Wagte ein Angestellter
sich gegen ihre Anordnungen aufzulehnen oder entstand durch irgendeine
Nachlässigkeit oder sonstiges Versehen Verlust im Geschäft, so
tobte sie. Besonders wenn man sie noch reizte, ging's bis zur Raserei;
sie schreckte selbst vor Tätlichkeiten nicht zurück. Einst wollte
sie, im tollen Geschäftsbetrieb im Streite mit einem großen
schwarzhaarigen Kellner, sich mit einem langen Messer auf ihn stürzen.
Sie klopfte mit dem Messer wütend auf den Tisch und schrie wie besessen.
Der Herr saß oben in der Schenke und wurde verlegen über seine
tobsüchtige Köchin. Die Gäste aber lachten. Der Alte wurde
täglich blasser. Ihr jedoch bekam das Leben immer besser.
Eines Tages erblickte ich ein »richtiges« Ölgemälde:
»Wildenten über einem Sumpf« im Schaufenster einer Hamburger
Kunsthandlung. Es bannte mich fest — so etwas hatte ich bisher noch nicht
gesehen! Der erste Keim zum Berufe des Malers hatte sich in meinem Innern
geregt. Felsenfest reifte in mir der Entschluß, Maler zu werden.
Jede freie Zeit benutzte ich, um mich im Zeichnen zu üben. Ich kopierte
Vorlagen und versuchte nach der Natur zu zeichnen. Im Sommer stand ich
morgens um drei Uhr auf und malte in Öl bis um acht Uhr, dann mußte
ich im Geschäft erscheinen.
An den freien Sommerabenden stieg ich aus meinem Kammerfenster auf
das Dach des vierstöckigen Hauses, ließ mich an einem Schornstein
nieder und sah über das Gewirr von Dächern, Häusern und
Türmen von Hamburg, die in wunderbarer Spätsonne vor mir lagen.
Die Turmschwalben schrillten durch die Luft. Tauben jagten in großen
Scharen durcheinander und machten ihren Abendflug. Von unten, aus weiter
Ferne, wogte der Lärm der Stadt zu mir herauf. Mein Sehnen und Wünschen
wurde in mir lebendig, ich träumte von glücklicheren Zeiten,
die ich mir frei gestaltete. Das Verlangen, Maler zu werden, wurde immer
stärker in mir. Doch es half mir nichts, das Geschäft, in das
ich blindlings hineingeraten, hielt mich mit festen Klauen. Galt es doch,
Geld zu verdienen, um meinen gefaßten Plan verwirklichen zu können;
es gelang mir erst nach Jahren.
Bei starkem Geschäftsgang im Winter kam ich oft wochenlang nicht
aus dem Hause. Alles, was in dieser Verbannung zu mir drang, war das Schreien
der Händler von der Straße her oder die lustigen Weisen der
Straßenmusik.
Die Kammer, in der wir männlichen Angestellten unser Massenquartier
hatten, glich im Sommer einem Backofen und im Winter einem »Eispalast«.
Sie hatte, nach der Straße abschließend, eine schräge,
nur aus den nackten Dachpfannen bestehende Wand mit einem kleinen Dachfenster.
Im Winter bei strenger Kälte waren die Ziegel mit einer dicken weißen
Eisschicht überzogen, die des Nachts bei unserem spärlichen Kerzenschein
diamantartig glitzerte. Wir schliefen darunter aber so ruhig und fest bis
in den Morgen hinein, daß oft eine alte — später dem Irrsinn
verfallene — Hausmamsell, gewaltig gegen die Türe polternd, uns aus
dem Schlafe schrecken mußte.
Um acht Uhr abends begann der Tanz. Ein mit zwölf Musikern besetztes
Orchester eröffnete den Abend mit einem Walzer. Die Welle der Vergnügungslustigen
hob sich bald höher und höher; sie brandete gegen den Eingang
und schob gewaltige Menschenmassen in den Saal. Dieser füllte sich
beängstigend; es wogte und wallte durcheinander wie von einer motorischen
Gewalt getrieben. Hitze, Staub, trübes Licht, Gesang und Geschrei
zog über und zwischen den Menschen dahin. Der Durst entwickelte sich
bei alt und jung der männlichen und weiblichen Teilnehmer in der heißen
Stickluft mächtig. Sie tranken, sie schütteten in sich hinein,
soviel die Gier des tobenden Vulkans in ihnen verlangte. Angetrunken, schwitzend,
mit schiefsitzender Krawatte und aufgerissenen Augen umlagerten sie die
Schenke, verlangten schreiend und lallend nach Bier, schlugen mit der Faust,
auch mit leeren Gläsern auf den Tisch, daß es knallte und die
Scherben flogen. »Bier!« »Bier!« »Bier her!«
schrie es unausgesetzt. Wein, Grog, Bier, Punsch und Schnaps taten dann
ihre Wirkung. Ein Knäuel von Menschen ballte sich im Saale zusammen:
Weiber schrien und kreischten. Ruhigere Männer drangen hinein in diese
Masse und versuchten durch gütiges Zureden oder mit Gewalt die Tobenden
und Kampfwütigen zu trennen. Sie waren aneinandergekrallt und ließen
sich nicht teilen noch bändigen, so stark war die Wut durch den Alkohol
in ihnen entfacht. Plötzlich bewegte sich der Knäuel mit einem
Ruck vorwärts, Menschen, Tische, Stühle, die in der Nähe
standen, auseinander sprengend. Neues Geschrei der Weiber! Ein männlicher
Kopf, bleich und blutüberströmt, mit wirrem Haar, taucht aus
der Masse auf. Mit abgerissenem Kragen und aufgerissenem Hemd verläßt
der Verletzte schließlich den Kampfplatz. Nach dem Schlußwalzer
allgemeiner Aufbruch, je nachdem es die Situation noch erlaubte. Die letzten
Genossen nahmen ihren Kurs noch nach der Schenke. Bier oder schwarzer Kaffee
wurde singend oder johlend verlangt, halb schlafend getrunken. Lallend
zog endlich der Rest zur Tür hinaus.
Diese ganze Betätigung war mir gründlich zuwider, ich haßte
sie und sehnte mich, aus dem Betrieb hinauszukommen. Aber ich mußte
durchhalten, bis ich mir so viel Geld verdient hatte, daß ich die
Hamburger Gewerbeschule besuchen könnte. In meinem einundzwanzigsten
Lebensjahr kehrte ich endlich der Stätte meiner Qual für immer
den Rücken; wie ein aus dem Gefängnis Entlassener kam ich mir
vor. Ich war frei! Welch ein Gefühl, jetzt zeichnend mich betätigen
zu können!
Ich meldete mich zum Besuch der Gewerbeschule in Hamburg als Tagesschüler.
Nun durfte ich ja zeichnen nach Herzenslust, natürlich nur nach Gipsmodellen.
Die jüngeren Lehrer, auf einer Kunstgewerbeschule ausgebildet, verfielen
meist in Raserei, wenn es galt, den Schülern zu zeigen, wie man es
anpackt, um in Guasch oder Aquarell Blumen und Früchte, opalisierende
Muscheln, Orangen, grüne und blaue Trauben zu malen. Letztere wurden
gegen das Tageslicht gehängt, damit sie farbige Reflexe zeigten.
Unserm alten pedantischen Lehrer W. war diese moderne Lehrmethode ein
Greuel. Er haßte diesen »fremden Zug«, wie er sagte;
duldete nicht, daß diese Art in seine Klasse getragen wurde. Kam
es trotzdem vor, daß einige verwegene Schüler — auch ich — nach
solchem Grundsatz arbeiteten, so grollte und polterte er los: »Ja,
ich habe es schon lange gemerkt, daß Sie etwas anderes wollen wie
ich! Es ist ein fremder Zug in meiner Klasse, ja?!« Waren beim Ölmalen
die Farben, wie er meinte, zu dick aufgetragen, so nahm er einen Teil davon
mit der Spachtel wieder herunter: »Es geht auch so!« Fehlten
die Blumen der Natur, so wurde nach Stoffblumen in Samt und Seide gemalt,
Rosen, Winden, Sonnenblumen und dergleichen mehr. Es war auch beliebt,
nach »schönen« farbigen Figuren und Büsten zu malen,
darunter die bekannten Zigeuner und Beduinenpaare. Sie erhielten ihren
Platz in einer Nische, umrankt von Stoffblumen in allen Farben. Mitunter
brachte dieser Lehrer des Morgens seinen Regenschirm mit in die Klasse,
öffnete diesen über sich — und Blumen, Blätter und Ranken
fielen daraus hervor und breiteten sich auf dem Boden aus, die ein Schüler
dann zusammenlesen mußte. Sie dienten als »Malobjekt«.
Das Zeichnen nach Gipsabgüssen der Antike, besonders die Hände
zu zeichnen, machte mir viel zu schaffen. Die ganze Lehrmethode taugte
nichts, es war und blieb immer ein Herumraten. Von einem richtigen Anfassen
und Vergleichen der Linien, Formen und Flächen zueinander war nie
die Rede; das war den Lehrern völlig fremd. Nach einem zweijährigen
Unterricht verließ ich die »Schule der guten Unterweisungen«.
Im Frühjahr 1893 ging ich nach Karlsruhe auf die Kunstakademie
und wurde in die Gipsklasse von Professor Pötzelberger aufgenommen.
Mein neuer Lehrer erkannte sofort mein Pfuschertum und legte mir straffe
Zügel an. Jetzt gab es kein Herumraten mehr, Technik und Form bekamen
eine feste Grundlage. Vorher »durfte« ich, schmerzlich erstaunt,
mein ganzes bisheriges »Können« zum alten Eisen werfen.
Ich spürte aber bald an meinen neuen Arbeiten die Früchte des
rechten künstlerischen Unterrichts. Meine erste Reise von Hamburg
nach Süddeutschland war ein großes Ereignis. Als ich von der
Heimat im Frühjahr abfuhr, rührten sich höchstens ein paar
Knospen an Busch und Baum. Schon bei Frankfurt am Main aber überraschten
mich blühende Syringen. Und als ich nach endloser, ermüdender
Fahrt im Bummelzug vierter Klasse in Karlsruhe eintraf, standen die Bäume
dort vollbelaubt im frischen Grün. Die Städte, die Dörfer,
die Berge, die Weingärten und das heitere »südliche«
Klima, alles wirkte stark und neu auf mich. Anfangs konnte ich mich an
die fremde stille Stadt nicht gewöhnen. Ihr Tun und Treiben war mir
ungewohnt; mager, anspruchslos und dürftig erschien mir ihre Seele
— vielleicht auch gesehen und empfunden durch meinen gleichgestimmten Geldbeutel,
den ich mitgebracht. Hier muß ich voll Dankbarkeit Pastor Peterssen
von Stellingen gedenken, der immer wieder Rat wußte, wenn mein Geld
trotz aller Sparsamkeit zu Ende war.
In den Sommerferien fuhr ich wieder zurück nach Stellingen. Von
Frankfurt ab sorgten einige herumreisende Musikanten mit Drehorgel oder
Ziehharmonika für Abwechslung im Zug. Ein bleiches, langgewachsenes
mageres Mädchen, in abgetragenem grauem Mantel, kam in unseren Wagen,
warf die unscheinbare Hülle ab und begann in rotem Trikot als Schlangenmensch
seine Kunst zu zeigen. Ermüdet langte ich endlich wieder zu Hause
an. Die Natur hatte sich inzwischen auch dort prächtig entwickelt.
Vor unserem Haus zog sich eine lange, sehr dichte Weißdornhecke hin,
die überhangen war mit dem schneeigen Weiß ihrer unzähligen
Blüten. Beim Anblick dieser Rassigkeit und Bejahung in ihrem Sein
und Leben überfiel mich plötzlich ein elender Katzenjammer; so
leer kam ich mir vor als wiedererstandener, neugebackener Karlsruher Gipsschüler.
Einige Jahre später machte ich dann meine Studienreisen nach Cuxhaven
oder Altenwalde. Diese interessante Ecke an der Nordsee mit ihren Watten,
Marschen, Geest und Heide zog mich viele Jahre immer wieder an. Dort, wo
die dunkle See mit weißgerandeten Wellen aufschäumt gegen das
Granitgestein der Deiche, dort, an dieser Küste, fühlte ich mich
frei und glücklich. Die Sehnsucht glitt traumhaft über die endlose
Wasserfläche gegen den Horizont, auf dem sie, weiterschwingend, fremde
Länder entstehen ließ, voller Schönheit und Schrecken —
— Ein aufkommender Sturm verjagte alle Träumerei. Er warf sich mit
rasender Wut gegen seine Opfer, griff mit scharfen Krallen in die Takelung
der Schiffe, zerriß die Segel in formenreiche Fetzen, daß sie
wie Triumphfahnen knallend an den Masten flatterten. Er trieb die umherirrenden
Schiffe auf die Sandbänke oder zog sie für immer in die Tiefe.
Leuchttürme und Leuchtfeuer sandten ihren Lichtschein warnend in die
Nacht hinaus. Windstille — Luft und Wasser eine ineinanderruhende, endlose,
graue Geisterwelt. Ein kurzer schmatzender Laut im Wasser: ein schwarzer
Kopf, mit großen fragenden Augen taucht hervor, langsam verschwindet
er wieder, kreisende Ringe überdecken seine Spur — — In einer finsteren,
verhängten Herbstnacht plötzlich ein rötlich-heller Schein
im Osten. »Feuer! — Auf einem Hof im Moor!« riefen die Bauern
von Altenwalde. Schnell entschlossen eilten auch wir durch die schwarze,
fast weglose Heide, die bald von dem Feuerschein vor uns schwach überstrahlt
wurde, und nach einer Stunde erreichten wir den grell durch die Bäume
lodernden, von schwarzen Gestalten umstandenen Brandplatz. Aus der schon
zusammengestürzten Scheune ragten freistehend nur noch zwei riesige,
gelb-, rot- und blauglimmende Heuhaufen hervor; als schwarzes Nichts umgab
die Nacht das Ganze. Vor dem Hause, auf dessen Dach die Flammen flackerten
und brausten, standen Obstbäume mit Früchten, die durch die Hitze
des Feuers braun angebraten waren. Das Feuer, das auf dem Dach und Boden
des Wohnhauses wütete, bohrte sich seinen Weg durch die Decke des
Wohnzimmers, löste den Gipsverputz derselben, der nun in größeren
Massen an den Drähten hin- und herpendelte. Die Flammen ergriffen
einen altertümlichen Schrank, sprengten die Türen, und mit Geklirr
stürzte das Glas- und Porzellangeschirr heraus auf den Boden. Nach
kurzer Zeit stand der Fußboden in Flammen. Gierig näherten sie
sich einem rotgepolsterten Sofa, im Nu war die schöne Ruhestatt ein
wildes Feuermeer, aus dem schwarze Rauchwolken empor wallten und die an
der Wand hängenden Bilder mit ihrem Dunkel einhüllten. Sie wurden
durch die Hitze vollständig zerstört und lösten sich von
den Wänden. Das bekannte Öldruckbild »Christus mit der
Dornenkrone«, das über dem Sofa hing, blieb fast unversehrt.
Nachdem das verrußte Glas durch die Hitze zersprungen und aus dem
Rahmen gefallen war, sank plötzlich die Glut darunter zusammen und
erlöschte. Der Besitzer des Gehöftes, ein großer, älterer,
herb dareinschauender Bauer, ging, hemdsärmelig, gestützt auf
einen Harkenstiel, langsam vor dem brennenden Hause hin und her. Meer und
Heide waren die Welt, aus der ich jahrelang meine künstlerische Anregung
holte. Ob Sonne, ob Wind, ob Sturm und Gewitter, Nebel oder Regen — ich
empfand mich eins mit dieser Natur und vernahm in ihren seelischen Regungen
die Stimme der Heimat zugleich. Im Oktober fuhr ich wieder nach Karlsruhe,
um dort weiterzustudieren. Von Hamburg nach Karlsruhe — ein weiter Weg! Welch
eine öde Stadt und die gähnend langen leeren Straßen! Warum
ging ich eigentlich nach Karlsruhe? Es war wohl nur die Tradition. Und
doch: Professor Pötzelberger, er wußte erstaunlich viel, und
in seiner Kunst überragte er alle: »Ja«, sagte er, »Sie
müssen halt groß anschauen lernen!« Oder: »Sie sehen
es kaum, aber doch ist es da!« Er meinte die anatomischen Rätsel
am Akt. Da waren dann einige Kollegen, die den »anatomischen Rätseln«
der Stadt einiges Leben gaben, begeisterte Kunstjünger, heiße
Verfechter der deutschen und der französischen Impressionisten, sowohl
der Maler wie der Dichter. Mit welcher Begeisterung wurden die Dramen von
Hauptmann, von Arno Holz und Schlaf, von Strindberg, Hamsun und den großen
Russen gelesen! Jakobsen mit seinem »Nils Lyhne« begeisterte
mich und versetzte mich in eine erhabene Festtagsstimmung. Das gesellige,
kameradschaftliche Verhältnis, in dem wir Schüler zu unserem
guten Grafen Kalckreuth standen, war wohl mit das Schönste, was wir
in Karlsruhe und auch später noch in Stuttgart hatten. Die Zusammenkünfte
in seinem gastlichen Haus sind mir unvergeßlich. Er war nie ein Spielverderber
und glücklich, wenn er an der Fröhlichkeit der Jugend teilnehmen
konnte. Die Fest- und Trinkgelage unter seiner Leitung hatten Schwung,
durchpulst von künstlerischem Empfinden. Nach mehrjähriger Tätigkeit
in Karlsruhe wurde Kalckreuth als Lehrer an die Akademie nach Stuttgart
berufen. Seine Schüler gingen mit ihm, darunter auch ich als sogenannter
»Meisterschüler«. So kam ich ins Schwabenland.
Vom Dezember 1900 bis Mai 1901 war ich mit meinem Freunde und Kollegen
A. in Paris und im Frühjahr 1914 noch einmal auf einige Wochen als
Gast bei einem Schweizer Freunde. Die Stadt war mir gleich beim ersten
Betreten vertraut, als ob ich schon viele Jahre in ihr gelebt. Nichts in
ihr wirkte auf mich fremd, nur alles neu. Mit ihren Kunstschätzen,
besonders des Louvre, wurde sie für mich ein Erlebnis. Die Fresken
von Puvis de Chavannes im Pantheon, in ihrer hohen, schlichten Art, mit
der sie sich besonders in den Farben dem Sandstein der Architektur so herrlich
anschließen und diese farbig weiterführen und beleben, begeisterten
mich immer wieder. Darf ich diesen Eindruck, den ich damals hatte, noch
heute laut verkünden? Und daß die ganze seelische Kraft durch
das Kolorit in Chavannes »Armem Fischer« (im Musée de
Luxembourg) auf mich überströmte und meine Gedanken gewaltig
hinzog nach der Heide am Meer der Heimat und diese in seiner Ausdrucksweise
vor mir erstehen ließ? Das Verlangen, das Meer an der Nordküste
Frankreichs zu sehen, wurde in mir immer leidenschaftlicher; doch es fehlte
das Geld für die Reise. Die ewige Geldnot schlug mir oft die Sicherung
aus meiner Lebensleitung, und diese wurde dadurch unterbunden. Nur Rouen
und seine Kathedrale mit dem herben, harten und rauhen Gesicht der Inquisition
in ihrem gewaltigen Innern und den zu Stein gewordenen flehenden Seelen
ihrer aufsteigenden Mauern durfte ich erleben. Ja, die Nordsee war nicht
mehr weit, ich hörte im Geiste sie schon rauschen und spürte
ihren Salzgeruch.
In einem Atelierhaus, Rue Leclercs, befand sich auch meine Bude, mit
dem Atelier in einem Raum vereint. Ein Aufbau über der Treppe, der
meterhoch in eine Ecke meines Ateliers hineinragte, diente als Podium für
das Modell und als Waschtisch zugleich. Die Italiener kamen in ganzen Familien,
vom Säugling bis zum greisen Großpapa — und boten sich zum »Posen«
an. Unter den Männern gab es interessante Menschen. Die Weiber waren
meistens etwas reichlich dunkel patiniert. Der Inhalt einer Sardinenbüchse,
mit vielem Weißbrot zu einem dicken Stampf verarbeitet, diente ihnen
oft als Mittagessen. Den guten Kanonenofen in der Ecke, dessen endlos zusammengesetztes
Rohr oben in der hohen Decke mündete, hatten wir für sechs Franken
auf dem Montmartre in einem elenden Zustand bekommen, Nur eine handbreite
unbeschädigte Stelle in dem Riß, der um seinen schwachen Körper
lief, rettete ihn vordem Auseinanderfallen. Ein Kohlenfeuer in ihm versetzte
ihn gleich in Wut; er glich dann mit seinen krummen Beinen einem glühenden
Mops, der die Zähne bleckte. Im erkalteten Zustand diente dieses Ungetüm
auch als Staffelei; das Bild wurde einfach auf den niedrigen Ofen gestellt
und mit seiner Rückseite gegen das nicht enden wollende Rohr gelehnt;
so malte es sich nicht übel. Mein Bild »Die Heide«, auf
der Oldenburger Ausstellung mit der silbernen Medaille ausgezeichnet, entstand
auf dieser »Staffelei«.
Im Jahr 1901 war die erste große Van-Gogh-Ausstellung bei Bernheim
in Paris. Welch ein Ereignis! Wer wußte denn in Paris, geschweige
in Deutschland, etwas von diesem eigenartigen Meister? Leider waren wohl
die dunklen Ausstellungsräume für diese Arbeiten nicht besonders
geeignet, denn sie machten einen stumpfen, fremden Eindruck. Bilder, die
ich später in Deutschland sah, strömten die ganze Helligkeit
aus, die ihnen ihr Schöpfer, mit fieberhafter Hingabe an die Natur,
zu geben verstand.
In einem Vorraum dann, eine von Renoir gemalte, lebensgroße, in
weißen Mull gekleidete Französin; ihr Körper atmete scheinbar
unter dieser zarten Hülle. Welch eine Malkultur in diesem Bild!
Von meinem Pariser Aufenthalt zurückgekehrt, arbeitete ich noch
einige Jahre als Kalckreuth-Schüler in Stuttgart. So bedeutend Kalckreuth
als Künstler war, so wenig hatte er als Lehrer die Gabe, seine Schüler
zu leiten und sich ihnen mitzuteilen; da versagte er ganz. Er ließ
sie deshalb auch arbeiten, wie sie es für richtig hielten; dadurch
wurden sie gezwungen, sich bald selbständig einen eigenen Weg zu suchen,
mochte er auch aussehen wie er wollte. Kalckreuth war glücklich, wenn
er dann auf diesem Weg einer interessanten Erscheinung begegnete. Diese
Methode hatte schließlich auch ihr Gutes.
Auf einem Alpenfest in Stuttgart lernte ich im Februar 1903 meine Frau
kennen, eine geborene Reutlingerin; an Pfingsten verlobten wir uns und
am 19. Mai 1904 war die Hochzeit. Nord und Süd konnten sich nicht
glücklicher verbinden. Wieder begann ein neues Leben, in dem helles
Glück und schwere, grausame Schicksalsschläge miteinander wechselten.
Wir zogen gleich nach Cuxhaven und lebten dort einige Jahre. Ich zeichnete
viel an der See und auf dem Vorland; fast täglich war ich draußen.
Das Meer mit seinen Linien und Bewegungen erschien mir anfangs ganz unentwirrbar
für die Kunst. Doch nach einiger Zeit erkannte ich auch darin den
großen Organismus und Rhythmus in den Formen, wenn es sich auch noch
so wild gebärdete.
Der Winter mit dem Schnee am Ufer der dunklen Wasserfläche und
später das Treibeis auf der Elbe, wenn es durch die Strömung
zischend hin- und hergeschoben wurde, waren sicher interessant. Doch mit
der Zeit ertrug ich das Klima nicht mehr. Der ewige Sturm, besonders im
Winter, beunruhigte mich, und der dicke, gelbliche Nebel lastete auf mir.
Kurz entschlossen zogen wir 1907, vermehrt inzwischen durch unsern
Buben, nach Süddeutschland und ließen uns zuerst in Betzingen,
dann in Reutlingen nieder. Nun plötzlich in einer ganz andern Welt!
— Im Sommer zog es mich immer wieder nach Cuxhaven und Altenwalde. Seit
Jahren war ich mit dieser Landschaft innerlich verwachsen, und ihr Gesicht
verfolgte mich ständig an meinem Wohnort im Süden.
Der Krieg mit seinen harten Folgen brachte es dann mit sich, daß
ich auf die jährliche Reise nach dem geliebten Norden verzichten mußte.
Dafür lernte ich die »Schwäbische Alb« kennen, die
ich im Ölbild, in der Zeichnung und im Holzschnitt wiederzugeben suchte
und suche. Die Alb wartet jetzt noch auf ihren Meister, der sich ihr nähert,
rein und unverbildet, ohne eine fertige Manier, die er mitbringt, um sie
damit einzufangen und im Bilde zu gestalten. Sie ist viel zu groß
und erhaben in Linie und Fläche, eigen in ihrer geheimen Sprache;
schroff, abweisend und verschlossen gegen Alltäglichkeiten im Erfassen
und Empfinden.
Aus: Alfred Hagenlocher -
"Wilhelm Laage, Das graphische Werk"
Mit freundlicher Genehmigung von Frau Dr. Wagner
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