Das Heraufkommen eines neuen, im 20. Jahrhundert umfassend
und tief sich wandelnden Weltbildes zeichnete sich im Wesen der Kunst,
in Geist und Form künstlerischer und schöpferischer Gestaltung
besonders deutlich und schon frühzeitig ab. Kommendes wurde vorausgeahnt,
lange bevor es in ein allgemeines Bewußtsein aufgenommen werden konnte.
Der Verlauf der Entwicklung geht vom Naturalismus und absinkenden Impressionismus,
vom malerisch Konturlosen, vom »Eindruck«, wie ihn die körperliche
Netzhaut äußerlich verarbeitet, hin zu Aussage und Daseinsdeutung
als Ausdruck des Innen, zur »Ausdruckskunst«. Als Wegzeichen
können beispielhaft die Namen Vincent van Gogh und Edvard Munch gesetzt
werden.
Dem künstlerischen Auftrag zur Verdichtung des Neuen kommen die
Möglichkeiten des Graphischen im Schwarz-Weiß besonders entgegen.
Das gilt vor allem für Deutschland, wo seit der Frühzeit der Graphik
das Einsetzen neuer Entwicklungen schon immer von einem Hervortreten graphischen
Ausdruckswillens begleitet war.
So erscheint, verbunden mit den tiefgreifenden geistigen Umbrüchen,
die vom 19. in das 20. Jahrhundert führen, als ein überragendes
Ereignis im Bereich der bildenden Kunst die Neugeburt der Originalgraphik.
Und hier geschieht vor allem im neuen Holzschnitt die Entdeckung des Graphischen
als eines Phänomens des Geistigen. Es bedeutet ein ganz Ursprüngliches,
eine völlig eigengesetzliche Ausdruckswelt gegenüber anderen
bildkünstlerischen Erscheinungen, wie etwa der des sinnenhaft Farbigen.
Neu entdeckte Inhalte unbewußter Wirklichkeiten und untergründiger
Vorgänge sind nun darstellbar geworden, finden Gestalt, die unmittelbar
zu erleben uns gegeben wird.
Das Wesen des Graphischen wird mit aller Intensität deutlich in
seiner Eigenschaft des tieferen Eindringens in ein notwendig gewordenes
neues Weltbild und WeIterleben: »Wir wollen in die Tiefe und in innere
Vorgänge dringen, wir wollen eine Kunst des unbekannt in uns pulsierenden
Lebens.« Daß dabei das Zukünftige eine Ausdruckskunst
mit dem Primat dieses Graphischen sein mußte, ist evident.
Tatsächlich tritt in der prüfenden Rückschau aus unserer
heutigen Distanz dieführende Rolle der originalen Druckgraphik für
die Manifestation und Deutung des neuen Welterfassens jener Jahre klarer
hervor denn je. Der Holzschnitt erreichte dabei die wirkungsstärkere
Gestalt gegenüber den anderen graphischen Techniken in der ihnen eigenen
Verfeinerung, wenngleich auch sie zur Einfachheit neuer und unmittelbar
graphischer Ausdruckskraft gesteigert wurden, wo es sich bisher noch wesentlich
um ihre Anwendung als Mittel zur Vervielfältigung der Zeichnung gehandelt
hatte. Es ging nun nicht mehr um die Anwendung nachahmender Reproduktionstechniken,
nicht mehr nur um Übersetzung von bloßen Eindrücken, sondern
ein großes inneres Müssen fordert vom Künstler die Gestaltung
von Gleichnis und Symbol, dessen Aussagekraft den Menschen zum Ergriffenen
macht und ihn in die Entscheidungen seiner Zeit stellt.
*
Der Akt des schöpferischen Vollzugs des Neuen kristallisiert sich
in einigen wenigen Berufenen. Allen voran ging der Norweger Edvard Munch
(geb. 1863), der schon von 1892 an mehrere Jahre in Deutschland gelebt
und sich seit der Jahreswende 1893/94 mit den graphischen Techniken der
Radierung und der Lithographie befaßt hatte.
Seine ersten Holzschnitte dagegen entstanden seit 1896 in Paris,
angeregt von Arbeiten Paul Gauguins, der in diesen Jahren ebenfalls begonnen
hatte, im Holzschnitt neue Wege bildkünstlerischen Ausdrucks zu suchen.
Unter den Deutschen selbst ist es WILHELM LAAGE (geb.1868), Landsmann
von Emil Nolde (geb. 1867), Christian Rohlfs (geb. 1849) und Ernst Barlach
(geb. 1870), der im letzten Jahrfünft vor der Jahrhundertwende als
erster die Schwelle überschreitet: 1896 beginnt sein graphisches Werk.
Er gibt dem Holzschnitt jene entscheidende Stellung, die ihn in seiner
geistigen Verdichtung von vornherein klar bestimmbar abgrenzt gegenüber
gleichzeitigen Versuchen, welche trotz einer gewissen Werkgerechtigkeit
nicht über ein illustratives und kunstgewerbliches Machen hinauskommen
und sich in der technischen Bereicherung erschöpfen. Wilhelm Laage
zieht die Konsequenz gegenüber einer Kunst der bloßen Wiedergabe
des von der Natur empfangenen Seheindrucks wie auch der Ȋsthetischen
Gourmets« und stellt sich ganz in die Notwendigkeit eines neuen Weges
der inneren Gesichte und Visionen.
Fast ein Jahrzehnt vor den Künstlern, die sich 1905 in Dresden
zu der Gemeinschaft »Brücke« zusammenschlossen (Ernst
Ludwig Kirchner, Erich Heckel, Franz Bleyl, Karl Schmidt-Rottluff), und
vor Emil Nolde, der erst 1906 seine ersten Holzstöcke schneidet, erleben
wir bei Laage das Wetterleuchten des Aufbruchs. Aus einer naturhaft ursprünglichen
Formkraft heraus legt er in den Jahren vor der Jahrhundertwende Fundamente,
mit denen er ganz am Anfang dieser Entwicklung steht und auf denen die
Späteren weiterbauen werden. Die Offenbarung neuer Elemente weist
weit in die Zukunft. Wir müssen mit dem von verschleiernden Zeiturteilen
befreiten Blick in dieses Geschehen vor der Jahrhundertwende zurückgehen,
um die Bedeutung Laages für den neuen Holzschnitt in Deutschland zu
übersehen. Schon seine Arbeiten der Jahre 1896, 1897 und 1898 zeigen
eine Gleichzeitigkeit und einen Rang neben Munch, die uns erstaunen machen
und die nur mit den Vorgängen tieferer Wirklichkeiten der Kunst, wie
sie außerhalb des Zeitlichen und Sichtbaren liegen, zu erklären
sind.
Hier wie dort bedeutet das Graphische die Niederschrift einer inneren
Natur, die im Geistigen der Voraussetzungen und der Erlebniswelt in hohem
Grade verwandt ist. Laage selbst berichtet über diese Zeit: »Den
Holzschnitt mit seinen dunklen Massen, der mit seinem 'Gesicht' aus dem
Chaos ans Licht strebt, schlicht, einfach und doch ungeheuer stark in der
Sprache, den brauchte ich.« Er verhalf dazu, das auszudrücken,
was innerlich in dir tobt und braust. Wie ein Dämon stand er immer
vor mir und trieb mich zu rastloser Arbeit an«.
*
Die Tiefenschichten, aus denen Laage gestaltet, wurden schon angelegt
in der Erlebniswelt seiner Kindheit und Jugend. Früh zeigt sich bei
ihm eine überaus große Erlebnisfähigkeit. Er wächst
in Verhältnissen auf, in denen die Helligkeiten in viel Dunkles gelegt
sind. Die Eltern sind tagsüber zur Arbeit abwesend, der Vater als
Friedhofsgärtner und Totengräber, die Mutter arbeitet schwer
in einer Bleicherei. Ein Brand wird dem Jungen zum schrecklichen Erlebnis.
Jahrelang sieht er in den Winternächten unheimliche Erscheinungen
und scheußliche Dämonen, Gewitter und Stürme setzen ihn
in tiefe Ängste, und im Sommer empfindet er das dämmerige Unterholz
des Waldes als unheimlich, oder er begegnet phantastischen Gestalten und
Gespenstern. Friedhöfe und das Geschehen um den Tod müssen ihn
stark berührt haben. Der 15jährige wird »abgeschoben«
in einen Wirtshausbetrieb nach Hamburg. Er berichtet: »Acht Jahre
der Verbannung begannen jetzt für mich, mit Leiden, Qualen und stillen
Freuden, in einem großen, dunklen, fremden Hause.« Es ist ein
Vergnügungslokal, um das sich die Sittenpolizei kümmert, »…ein
riesiger hummerartiger Polizist bewachte den Eingang«. Auch in dieser
Zeit wird ihm das Ausgesetztsein und die Gefährdung alles Menschlichen
zur bleibenden Erfahrung.
Die Spuren, der Niederschlag dieser Erlebniswelt ziehen sich durch
das ganze graphische Werk und sind besonders deutlich in den frühen
Blättern nachzuweisen. Daß Laage Vorgänge des zweiten Gesichts
und des Hintersichtigen erlebte, oder daß ihn nicht selten Ahnungen
oder Untergründiges belasteten, ist bis in seine späten Jahre
bezeugt. Das innere Verwandtsein mit den anderen Nordländern, mit
Nolde und Barlach, vor allem aber mit Munch, tritt in diesen Bereichen
besonders zutage. Auch das Einzelgängertum ist ihnen gemeinsam und
die geistige Kraft jener Einsamen, die abseits der breiten Wege, ohne Programme,
Theorien, Gruppen — als die eigentlichen Urheber — neue Form und Gestalt
aus den Seelengründen leidender menschlicher Existenz gebären.
Der junge Laage wird ergriffen vom inneren Müssen zur Kunst, und
sie wird ihm zur Bestimmung. Es gelingt ihm, aus den Qualen seines Hamburger
Daseins herauszukommen. Von 1890 bis 1892 wird ihm, wohl mit der Unterstützung
des Pastors Petersen, der Besuch der Gewerbeschule möglich. Alfred
Lichtwark findet ihn seiner Förderung wert, und Laage bezieht 1893,
nun schon als 25jähriger, die Karlsruher Kunstakademie. Der Österreicher
Robert Poetzelberger (1856—1930) und dann Graf Leopold von Kalckreuth (1855—1928)
werden seine Lehrer. Sie vermögen ihm sehr wenig zu geben, stehen
aber seiner Eigenentwicklung nicht entgegen. Für das, was aus Laage
als das Wesentliche hervorbricht, für den neuen Holzschnitt, gibt
es noch keinen Lehrer, nirgends in Deutschland. Er schreibt: »Die
ganze Technik des Holzschnitts überhaupt, Schnitt und Druck, mußte
ich selber für mich erfinden, denn ich hatte niemand zur Seite, der
mir auch nur einen Wink auf meinen Weg gab.« Bei Carl Langhein (1872—1941),
den Kalckreuth als Lehrer für den Steindruck nach Karlsruhe gerufen
hatte, beschäftigte sich Laage schon vorher mit der Lithographie,
kommt aber sehr bald zu der Feststellung: »… diese hatte für
mich nicht das Rückgrat und die Seele, die ich von der Graphik verlangte«.
Karlsruhe hatte mit der Pflege der Lithographie, vorwiegend als Farbensteindruck,
in der Entwicklung der neunziger Jahre größere Bedeutung erlangt.
Sie erreicht ihren Höhepunkt, als im Jahre 1895 Kalckreuth, der dem
Neuen und den Bestrebungen der Jungen sehr aufgeschlossen gegenüberstand,
an die Akademie berufen wurde. In diesen Jahren war Karlsruhe »geradezu
der Vorhof Deutschlands« (Singer, Glaser) vor allem auf dem Gebiet
des Steindrucks geworden. Lehrer und Schüler gründeten 1896 unter
dem Vorsitz Kalckreuths den Karlsruher Künstlerbund, wobei es sich
um eine ausgesprochene »Sezession« handelte. Die Atmosphäre
der stillen Residenzstadt scheint für diese Bestrebungen nicht sehr
günstig gewesen zu sein. Als Kalckreuth im Jahre 1899 an die Stuttgarter
Akademie überging, zogen die fortschrittlichsten Kräfte unter
den Lehrern und Schülern mit.
*
In diesen Jahren, seit 1895, finden sich an der Karlsruher Akademie
drei junge Künstler, denen die Situation des Aufbruchs gemeinsam ist,
zu Freundschaft und Werkgemeinschaft zusammen: Wilhelm Laage, Emil Rudolf
Weiß (1875—1942) und Karl Hofer (1878—1955). Sie bilden keine Gruppe,
wie wir sie in den späteren Dresdener und Münchener Zusammenschlüssen
kennen, aber ihrer Verbindung kommt die Eigenschaft einer Keimzelle des
Neuen zu. Sie sind in Deutschland die Ersten, von denen im Bereich des
spezifisch Graphischen eine eigene, legitime Beziehung zu jener Innenwelt
aufgenommen wird, die sich von van Gogh und Munch herleiten läßt.
Die Rückschau läßt erkennen, daß hier der Frühexpressionismus
eine erste gültige Ausformung erfahren hat, wenn auch die Voraussetzungen
zum eigentlichen Durchbruch in das breitere Kunstgeschehen noch nicht gegeben
waren.
Aufschlußreich sind auch die lebhaften literarischen Interessen
der Freunde. Gemeinsam war ihnen die Begeisterung für Strindberg,
Hamsun und die russischen Dichter, für Arno Holz, Dehmel und Stanislaw
Przybyszewski, den ersten Biographen Munchs. Mit Alfred Mombert waren sie
zusammengekommen, von dem E. R. Weiß eine Porträtlithographie
von hoher Qualität geschaffen hat.
1899 hat Hofer ein Laage-Bildnis radiert, ein wichtiges Blatt seiner
frühen Graphik und einziges Bildnis seines radierten Werkes (Rathenau R. 31).
Weiß porträtierte in einer Lithographie Laage beim Holzschneiden
im Atelier. Damit ist auch die Wahl der graphischen Technik angedeutet,
in der sich jeder der Freunde selbst gefunden hatte. Die von ihnen gewahrte
Eigenständigkeit bestätigt sich besonders augenfällig, wo
ein gleiches Thema gestaltet wurde, wie in Laages Holzschnitt Die Stumpfsinnigen
und Hofers Radierung Geschlossene Gesellschaft (Rathenau R.1). Der freundschaftliche
Kontakt der Drei hat sich, wenn auch nur in lockerer Weise, fortgesetzt.
So verbrachten Laage und Hofer einen gemeinsamen Sommer in Altenwalde,
verbunden mit einer sechswöchigen Seefahrt. E.R.Weiß und Laage
trafen sich später in Berlin und besuchten 1913 gemeinsam Gustav Schiefler
in Hamburg. Weiß war inzwischen genia1er Schöpfer neuer deutscher
Buch- und Schriftkunst geworden. In den zwanziger Jahren noch verlebten
Hofer und Weiß zwei Sommer gemeinsam in Bernau, dem Geburtsort von
Hans Thoma. Künstlerisch war jeder von ihnen seit der Jahrhundertwende
seine ganz eigenen Wege gegangen.
*
Die Zeit, die Laage von 1899 bis 1904 an der Stuttgarter Akademie als
Inhaber eines Meisterateliers bei Kalckreuth verbringt, ist für sein
graphisches Schaffen nicht fruchtbar geworden. Vom lebhaften Stuttgarter
Kunstleben jener Jahre, das durch das Wirken von Bernhard Pankok, Carlos
Grethe u. a., auch des Architekten Theodor Fischer und durch die Gründung
der Lehr- und Versuchswerkstätten am Weißenhof gekennzeichnet
war, konnte sich Laage nicht angesprochen fühlen. Nur Adolf Hölzel
und sein Kreis scheinen später etwas Berührung ermöglicht
zu haben.
Wichtiger wurden für Laage seine Studienreisen an die Nordsee
nach Cuxhaven und Altenwalde sowie sein erster Aufenthalt in Paris vom
Dezember 1900 bis Mai 1901. Dort fand 1901 die erste große Van-Gogh-Ausstellung
bei Bernheim statt, die ihn noch in seinen späten Erinnerungen ausrufen
ließ: »Welch ein Ereignis! Wer wußte denn in Paris, geschweige
in Deutschland, etwas von diesem eigenartigen Meister?« Inzwischen
erschienen die ersten Veröffentlichungen über Laages Holzschnitte
in so angesehenen und anspruchsvollen Zeitschriften wie den Wiener »Graphischen
Künsten« und in »Ver Sacrum«. Auch kommen seine
Blätter erstmals in überregionale Ausstellungen, in die »Große
Kunstausstellung Dresden« und nach Wien, oder Karl Ernst Osthaus
in Hagen wendet sich an Laage mit dem Wunsch einer Ausstellung in seinem
Museum.
1903 lernt Laage seine spätere Frau, die an der Stuttgarter Akademie
studierende Hedwig Kurtz aus Reutlingen, kennen. Nach der Hochzeit im Mai
1904 ziehen sie nach Cuxhaven. Hier nun sollte, nach der ersten Begegnung
mit Gustav Schiefler, Laages Holzschnittwerk seine reiche Fortsetzung finden.
*
Die Verbindung Laage—Schiefler verdient besondere Beachtung. Gustav
Schieflers Wirken für die neue Kunst in Deutschland — für den Expressionismus
im besonderen — erhält aus unserer heutigen Sicht auf die Vorgänge
der Jahrhundertwende nicht geringe Bedeutung. Der Rang seiner Œuvre-Kataloge — Ernest
Rathenau hat ihn zu Recht den »Klassiker des modernen deutschen
Graphik-Katalogs« genannt — bleibt vorbildlich und unerreicht, wie
die heutigen Neuauflagen seiner Nolde- und Kirchner-Kataloge zeigen. Damit
verbunden bestätigen sich die Schieflerschen Interpretationen künstlerischer
Werke aus der damaligen Zeit in ihrer Gültigkeit immer wieder neu.
Schieflers ausgezeichnete Kennerschaft gründete sich nicht zuletzt
darauf, daß er mit den Künstlern intensive persönliche
Kontakte pflegte, die in den meisten Fällen zu ausgesprochen freundschaftlicher
Verbundenheit führten. Oft waren in seinem Hause in Mellingstedt bei
Hamburg Künstler wie Munch, Nolde, Heckel, Schmidt-Rottluff zu Gast,
und eben auch Wilhelm Laage als einer der ersten. Neben zum Teil intensiv
gepflegtem Briefwechsel wurden hier im persönlichen Austausch mit
den Künstlern die Grundlagen geschaffen für die Veröffentlichungen
Schieflers und für den Ausbau seiner Sammlung.
Schiefler vermittelte wiederum Verbindungen zwischen diesen Künstlern,
sei es durch ihre Werke, sei es durch persönliche Begegnungen. So
heißt es in einem Brief von Karl Schmidt-Rottluff an Schiefler vom
18.7.1907, den er anläßlich seines ersten Besuchs bei ihm schrieb:
»Laage will ich auch besuchen auf der Rückreise von Hamburg…«,
und dann am 28.7.1907: »…diese Munchs, die beiden Holzschnitte
und einige Lithographien, beschäftigten mich noch stark. — Es war
sehr liebenswürdig von Ihnen, mich bei Laage anzumelden…«
Auch muß Gustav Schiefler auf die ihm verbundenen, oft schwer
ringenden Künstler, für die er sich nach außen fördernd
und kämpfend einsetzte, durch direkte Anregung und positive Kritik
eine große Wirkung ausgeübt haben. Das trifft auch für
Laage zu, den er im Sommer 1905 in Cuxhaven erstmals aufsuchte, nachdem
er durch Kalckreuth erfuhr, daß der Künstler sich dort angesiedelt
hatte. Schiefler berichtet von diesem Besuch: »Ich fand ihn dort
in ziemlich gedrückter Stimmung. Er saß, jung verheiratet mit
einer Reutlingerin, in einem Häuschen in Westerwisch, war mit sich
und seiner Kunst nicht im reinen und krankte an der Unmöglichkeit,
sich da unten mit anderen auszusprechen. Den Holzschnitt, so erzählte
er, habe er ganz liegen lassen. Denn abgesehen von den in den 'Graphischen
Künsten' und einigen in der Inselmappe publizierten Stöcken habe
er noch kein Blatt verkauft. Nun freute es ihn, daß mich die Anteilnahme
an dieser Kunstübung hergeführt hatte, und er lebte geradezu
auf, als er sah, wie mir seine Drucke gefielen. Ich nahm das Bewußtsein
mit, daß mein Besuch und der Ankauf einiger Holzschnitte seinen Mut
neu belebt hatten, und er sah diese Hoffnung dadurch bestätigt, daß
er im nächsten Frühjahr mit einer Anzahl neu geschnittener Stöcke
erschien, die er in Hamburg drucken wollte. Er wohnte bei uns und war ein
angenehmer, anspruchsloser Gast. Sein Äußeres und sein Benehmen
hatten nichts vom Künstler, eher hätte man ihn für einen
kleinen Handwerker halten können. Nur das energische Gesicht und die
Lebhaftigkeit des oft in Begeisterung aufblitzenden Auges legten Zeugnis
ab, wie es in seinem Innern arbeitete. Er war zutraulich wie ein junger
Verwandter und genoß offenbar als ein Glück, sein Herz bei uns
auszuschütten und für seine künstlerische Auffassung, insbesondere
für das Starke, Geradlinige, Scharfkantige, Eckige, das er liebte,
Verständnis zu finden. Er klagte, ihm sei oft geraten, dem zu entsagen,
weil es das Publikum abstoße, aber er würde das als eine Untreue
gegen sich selbst empfinden. Wiederholt, fast alljährlich, ist er,
sei es allein oder mit seiner Frau, bei uns als Hausgast gewesen, und jedesmal
vermehrte sich meine Sammlung um eine Anzahl Blätter… «
*
Schon 1899 waren Holzschnitte und Lithographien von Wilhelm Laage den
Mappen des Karisruher Vereins für Originalradierung beigegeben worden.
Im selben Jahr waren im 1. Jahrgang der berühmt gewordenen »Insel«,
in den Wiener »Graphischen Künsten«, dann 1900 in der
Inselmappe Holzschnitte von Laage reproduziert oder als Originalbeigaben
erschienen. Friedrich Dörnhöffer hatte in den »Graphischen
Künsten« eine erste Würdigung der aufrüttelnden Blätter
des jungen Künstlers gegeben. Es ist der von Schiefler erwähnte
Aufsatz, durch den er erstmals auf Laage aufmerksam wurde. Dörnhöffer
gibt damals schon in treffender Interpretation ein Bild von der Eindringlichkeit
der Graphik Laages und macht auf das für die Situation jener Jahre
so Bedeutende und Ungewöhnliche in dessen »Holzschnittsprache«
aufmerksam:
»…so bricht gleichsam die Blüte dieser persönlichen
Kraft auf in den Werken, wo sich in die dargestellten Naturdinge traumgeborene
Gestalten mischen, wie ›Nacht‹, ›Ein Frühlingstag‹, ›Die Braut‹,
über denen es wie ein Wetterleuchten wahrer Inspiration geht.«
Und zu dem Holzschnitt ›Dorfbrand‹ von 1898 schrieb er: »Die
züngelnden Flammen, Qualm und Rauch verdichten sich zu Visionen der
Elemente; das Feuer reißt den gierigen Rachen auf, die Winde schüren
mit ihrem Hauche, unten, im unklaren Gewirre, mühen sich Menschen
in trostlos-vergeblichem Kampfe. Ein Blatt von wilder Energie und hinreißendem
Schwunge, dem ein vollendetes Gelingen verliehen ist.« Und, müssen
wir Heutigen nach 70 Jahren hinzufügen, ein Blatt von geradezu unerhört
visionärer Prophetie im Heraufkommen und vor dem Beginn dieses 20.
Jahrhunderts mit seinen Erschütterungen und Weltbränden.
1901 erschien in der dem »Pan« verwandten Zeitschrift »Ver
Sacrum«, die sich die Pflege der graphischen Künste besonders
angelegen sein ließ, ein Beitrag von Emil Rudolf Weiß über
Wilhelm Laage. Die Auswahl von elf frühen Blättern Laages, die
in Abbildungen beigegeben wurde, vermittelt gerade im Rahmen dieser anspruchsvollen
Zeitschrift dem heute Prüfenden den Eindruck einer erstaunlichen Vorwegnahme.
Laage hatte über die »Stilwende« jener Jahre mit ihren
dekorativen Flächeneffekten, kunstgewerblichen Mustern, Ornamenten
und Stilisierungen schon weit hinausgegriffen. Dörnhöffer hatte
1899 richtig von Laage gesagt: »Von Vallotton scheint ihm nicht viel
bekannt gewesen zu sein.« Und E.R.Weiß bestätigte nun
in seiner Abhandlung über Laages Graphik erneut den Aufbruch, das
Ganz-Andere einer neuen Innenwelt.
Er schreibt: »Wenn einer ist, der sich gibt ohne Maske und ohne
'Kunst-machen-Wollen', so ist dies Laage. Keiner hat seine Gesichte so
unangetastet ins Sichtbare gerufen. — Ihm dient ein Auge und eine Hand,
so wundervoll frei bewahrt von allem, was irgendwo für Schulgeld zu
lernen ist. — Welch ein Glück, daß seine Natur so verschlossen,
verborgen, geheim war, daß kein akademischer Drill sie stören
oder vergewaltigen konnte, nichts ihr aufdrängen als ‹notwendig›
oder ‹richtig›, noch ihr etwas von dem nehmen, was sie aus dem heiligen
Schoß mitgebracht, aus dem sie kam. — Laages Stil, das heißt
die Art, wie er alles sieht und darstellt, ist völlig frei, uriabhängig,
sein eigen und er selbst.« Auch Weiß wird fasziniert von der
Dichte des Dorfbrands: » … diese infernalisch glühende Concentration
der Stimmung von menschlicher Not und Angst und dem Brausen von Feuer und
Wind, wiederum menschlich oder vielmehr: übermenschlich und sichtbar
geworden in dem ungeheuren Dämonenhaupt, das mit aufgerissenen Augen
und schreiendem Maul über die dampfende Brandstätte wogt. Ferner
das große Blatt ›Tod und Leben‹ und das unvergleichliche ›Finale‹,
in dem wieder das Beklemmende, Traurige, unfaßbar Unheimliche, wie
das Arme und Hilflose, das Trost erhält, Gestalt angenommen hat. —
Eine große Reihe von Holzschnitten sind nicht bis zu dieser ›Sichtbarwerdung‹
entwickelte ›Vermenschlichungen‹, keine rein symbolischen Darstellungen
eines Erlebnisses, sondern mit restloser Versenkung in die angeschaute
Erscheinung und mit äußerster Strenge und Selbstzucht gegen
die ausführende Hand gegebene Dinge der Erscheinungswelt. Vielmehr
deren innerstes und geheimstes Wesen, ihre 'krystallisierte, paradiesische
Form', wie Gide sagte.« Und Emil Rudolf Weiß findet das Schlüsselwort,
wenn er dann schreibt, daß jeder dieser Holzschnitte Laages »ein
Zustand seiner Seele« sei.
*
Im Jahre 1896 hatte dieses graphische Schaffen Laages eingesetzt. Nach
kurzer Zeit ist es nur noch der Holzschnitt, der ihn beschäftigt:
» … um das Jahr 1898 war es, daß mich eine leidenschaftliche
Liebe zum Holzschnitt faßte.« Mit den ersten Holzschnitten
schon hat er sich selbst gefunden, steht er am entscheidenden Punkt im
Prozeß des Übergangs zwischen dem Gestern und einem Morgen.
Und mit dem Durchbruch werden auch sofort die ersten Höhepunkte erreicht.
Am Meer 1896, Tulpen, Mann mit Tod als Kind 1897, Dorfbrand, Die Stumpfsinnigen,
Nacht, Altenwalder Heide 1898, Tod und Leben, Die Braut, Frühlingssturm,
Finale, Einsame Landstraße 1899 — alle diese Schnitte sind Entscheidungen,
zur abstrakten Form, zur zweidimensionalen Fläche, zu Rhythmus und
Struktur, und alle dienen Laage dazu, wie er es einmal in einem Brief an
Gustav Schiefler ausdrückte, » … den seelischen Ausdruck in
Linie und Fläche widerspiegeln zu lassen«. Wir erkennen die
Elemente für den kommenden breiten Strom expressiven Gestaltens in
seinen vielfältigen Erscheinungen, vom Expressionismus im engeren
Sinne bis zum Verismus, magischen Realismus und Surrealismus. Wie Urschöpfungen
stehen diese Holzschnitte am Beginn der neuen Entwicklung. Es sind wirkliche
und kostbare Inkunabeln des neuen deutschen Holzschnitts.
Nach der Stuttgarter Pause tritt seit dem Sommer 1905 der Holzschnitt
für Laage erneut in den Vordergrund. Sein Schaffen schreitet fort
in folgerichtig ausreifenden Phasen mit dem Merkmal der Bändigung
in sich steigernden Ordnungsgraden, bei größter Reinheit der
Mittel. Die notwendige Auseinandersetzung mit den Erscheinungen der Zeit,
dem Jugendstil und japonistischen Elementen, überzeugt. Laage bleibt
er selbst und bestätigt sich in seinem Stil eines gebändigten
Expressionismus mehrschichtiger Ausprägungen, die ein inneres, gestaltendes
Gesetz zur Form eines Ganzen läutert. Deshalb auch ist bei ihm kein
Ausbrechen, kein Enthemmen noch Ekstase, und auch nicht Anklage und Aufruf.
Tendenzen oder auch Theorien kennt er nicht. Laage hat ein Zuviel im Übermaß
des Ausdrucks immer vermieden. Er steigert nicht mit Effekten, sondern
die Steigerung geschieht durch Verhaltenheit und Strenge, durch kühle
Klarheit. Die Schaffensperioden gehen bruchlos ineinander über, wenngleich
die Stilstufen der steten lebendigen Wandlung dieses graphischen Werkes
deutliche Zeitabschnitte markieren. Die Jahre bis um 1910 werden gekennzeichnet
durch Arbeiten wie Die Faule 1905, Frau am Meer 1906, Mondaufgang 1906,
dann 1907 Abend am Meer, Des Sommers Grab, Marine, denen 1908 Blätter
folgen wie Erinnerung, Mutter mit Kind, Dämmerung und Sommers Abschied.
Inzwischen hatte Gustav Schiefler Laages Holzschnitte in seine Sammlung
aufgenommen. Er berichtet darüber in seiner Schrift »Meine Graphik-Sammlung«:
»Ich besaß jetzt von Munchscher Graphik eine Sammlung, die
an Bedeutsamkeit der Stücke und Qualität der Drucke zu damaliger
Zeit die reichhaltigste war. Aber in jenen Jahren der gärenden Säfte
traten — neben Liebermann und Munch — noch andere Künstler auf den
Schauplatz, die in meiner Sammlung einen Platz beanspruchen durften. Zeitlich
als erster von ihnen tauchte Wilhelm Laage auf. Mit seinen früheren
Arbeiten war ich schon um 1900 durch einen Artikel in den ›Graphischen
Künsten‹ bekannt geworden.« Und a. a. 0.: »Bald fing
ich auch hier an, das Material für eine spätere Katalogisierung
zu sammeln« — nachdem er 1907 den ersten Teil seines Œuvre-Katalogs
der Graphik Edvard Munchs fertiggestellt hatte.
Schiefler bekundet in der Einführung seines Laage-Katalogs, daß
er oft mit Laage über die Voraussetzungen seiner Kunst gesprochen
habe. Er hebt die Selbständigkeit seiner künstlerischen Auffassungen
hervor, seine unbestechliche Ehrlichkeit, und schreibt von Laages »begründetem
Bewußtsein, daß es etwas sei, was er zu geben habe«.
Als ein entscheidendes Merkmal betont er, daß Laage »kein eingeschworener
Heimatkünstler ist, der sich auf sein Gemüt etwas zugute tut«.
Aber Schiefler erkennt wesentliche Grundlagen des Nordländers aus
dessen Heimatlandschaft, aus Dünen, Küste, Heide, Himmel, Meer,
wenn er sagt: »Der Rhythmus dieser Melodie klingt im Innern des Künstlers
wider und läßt ihn die Grundtöne erkennen, auf welche alles
gestimmt ist:
des Raumes Weite, die bedeutende Fläche, die große Linie.
Mit leidenschaftlichem Ernst geht er an die Arbeit, aber es wird ihm schwer,
den Stoff zu bewältigen; es ist wie ein Ringen um das Glück.
Er ist nicht gewandt und noch weniger geschickt; seine Ehrlichkeit und
seine Ausdauer führen seine Künstlerschaft zum Sieg. Weichheit,
Gefälligkeit und einschmeichelndes Wesen würde man vergebens
suchen; aber eine gründliche Sachlichkeit und starkes Gefühl
für die Form und die Verhältnisse, also für die künstlerischen
Gesetze der Gewichtsverteilung und Einordnung in den Raum, treten überall
hervor. Er ist nicht ohne eine gewisse Schwere des Ausdrucks; aber sie
wird durch seine Gefühlswärme gemildert, welche über seine
ernsten Werke eine scheue Grazie breitet.« Und er schreibt a. a.
0.: »Jene Abgewogenheit im Verhältnis der angewandten Mittel
zum Gegenstand, welche er als unverlierbaren Gewinn aus dem Studium der
großen und einfachen Formen und Linien der Natur schöpft, gibt
ihm auch die Fähigkeit, das Persönliche und Alltägliche
ohne Geziertheit und Anmaßung in ein bedeutendes Gewand zu kleiden.«
Schiefler schließt seine Einführung mit dem Blick auf Laages
Persönlichkeit selbst: »Aus allem, was ihm entgegentritt, klingt
ihm der große und einfache Rhythmus der eigenen Natur entgegen.«
Und: »Den Mangel an platter Geschmeidigkeit wirft ihm niemand vor,
der sein ehrliches Gesicht kennt: Wer in Einsamkeit dem Schaffen obliegt,
kann kein Vielgewandter sein.«
*
Im Dezember 1906 fand in Dresden die erste Graphik-Ausstellung der 1905
gegründeten »Künstlergruppe Brücke« statt, an
der auch Wilhelm Laage teilgenommen hat. Über die Beteiligten unterrichtet
eine Anzeige in den »Dresdner Neuesten Nachrichten« vom 4.12.1906 mit
dem Wortlaut: »Die Künstlergruppe ›Brücke‹
eröffnet am 3. Dezember 06 in den Ausstellungsräumen ihres passiven
Mitglieds K. M. Seifert, Dresden Löbtau, Gröbelstraße,
ihre erste Holzschnittausstellung, bei der außer den Mitgliedern
(Cuno Amiet, Fritz Bleyl, E. Heckel, E. Kirchner, M. Pechstein, K. Schmidt-Rottluff)
noch folgende Künstler vertreten sind: G. Hentze — Kopenhagen, W. Kandinsky — Paris,
W. Laage — Cuxhaven, H. Neumann — München.«
Wie neue Untersuchungen zur Geschichte der »Brücke«
— hier insbesondere von Gerhard Wietek und Eberhard Roters (s. Lit.-Verz.)
— erkennen lassen, kommt dieser Ausstellung und ihren Teilnehmern besondere
Bedeutung zu. Auch Edvard Munch war eingeladen, hat jedoch nicht teilgenommen.
Wietek verweist auf die Rolle der nicht zum engeren Brücke-Kreis gehörenden
Künstler, auf die »Vorgänger, Weggefährten, Vorbilder,
ohne die das Werk keines Künstlers gedeihen kann«, und sagt:
»Für die Brücke als Organisation mag die Beschränkung
auf die von Kirchner (in seiner Brücke-Chronik [Der Verfasser]) genannten
Namen zu begründen sein, für die Deutung der Brücke als
Stilphänomen war und ist sie nicht ausreichend.«
Gerhard Wietek spricht die Vermutung aus, daß die den Brücke-Künstlern
bekannte Zeitschrift ›Ver Sacrum‹ mit dem Beitrag von Emil Rudolf Weiß
über Wilhelm Laage die mittelbare Veranlassung gegeben haben könnte,
Laage zu dieser ersten Holzschnittausstellung der Brücke einzuladen.
Eberhard Roters kommt zu dem Schluß, daß möglicherweise
durch Gustav Schiefler, der im selben Jahr 1906 über die Verbindung
mit Emil Nolde passives Mitglied der Brücke geworden war, der Vorschlag
zur Teilnahme Laages vermittelt wurde. Naheliegend ist auch eine Kenntnis
seitens der Brücke von Dörnhöffers Laage-Aufsatz in den
»Graphischen Künsten« von 1899. Darüber hinaus darf
jedoch als sicher angenommen werden, daß Laage den Brücke-Künstlern
auch durch Originalarbeiten schon bekannt war. Laage beteiligte sich 1904
an der großen Kunstausstellung Dresden, wie er Karl Ernst Osthaus
in einem Brief mitgeteilt hatte. Im Jahre 1906 fand eine Ausstellung seiner
Arbeiten in Weimar statt.
Mit welchen Holzschnitten Wilhelm Laage in der Brücke-Ausstellung
vertreten war, läßt sich wohl nicht mehr feststellen. Er hatte
seit 1905 eine Reihe neuer Holzstöcke bearbeitet. Einen Hinweis vermag
vielleicht seine Mitteilung an Gustav Schiefler vom 2. November 1906 enthalten,
daß er augenblicklich von seinen sämtlichen früheren Holzschnitten
— gemeint sind die Schnitte der Zeit vor 1900 — eine kleine Auflage drucken
lasse. Eine aufschlußreiche Vorstellung des Eindrucks, den Laages
Blätter neben denen der Brücke-Mitglieder und Kandinskys in dieser
Ausstellung vom Dezember 1906 gegeben haben, läßt sich jedoch
auch heute erreichen. Es kann davon ausgegangen werden, daß eine
Auswahl der besten Schnitte erfolgt war. Die Kenntnis der frühen Arbeiten
Laages führt dabei zu überraschenden Ergebnissen. Vergleiche
oder Gegenüberstellungen wie etwa von Laages Die Faule 1905 mit Kirchners
Mädchenakten desselben Jahres (Schiefler 10, 11, Dube 58—61) — die
Beispiele lassen sich beliebig erweitern — zeigen, daß Laage die
eigentliche expressionistische Stilstufe erheblich früher erreicht
hatte. Das besondere Interesse der Brücke-Künstler an einer Einladung
und Teilnahme Laages, welches ja Gründe gehabt haben muß, erklärt
sich aus der Erkenntnis der Bedeutung der Laageschen Holzschnitte für
die von ihnen selbst erstrebten Vorstellungen und Ziele. Es eröffnen
sich hier Aspekte, die weitergehender Untersuchungen bedürfen. Gegenüber
einer oft gebrauchten Fixierung des Jahres 1905 für den eigentlichen
Beginn der neuen Kunst in Deutschland — im besonderen des expressionistischen
Holzschnitts — ergibt sich hier aus Laages frühem Holzschnittwerk
eine erweiterte Sicht, die für die Gesamtdarstellung nicht unwesentlich
bleiben kann.
Kirchners bedauerliche Manipulationen — unter anderem mit der bewußten
Vordatierung seiner Holzschnitte bis 1898 —, mit denen er alle Einflüsse
und Anregungen durch andere Künstler verneinen zu können glaubte
und als der erste Erneuerer des Holzschnitts erscheinen wollte, haben wohl
lange Zeit mit dazu beigetragen, Laages frühen und entscheidenden
Beitrag zu verschleiern. Heute ist die Aufnahme von Einflüssen aus
Laages Frühwerk durch die Brücke nicht mehr auszuschließen.
Dörnhöffer hatte auf solche Wirkungskraft der Graphik Laages
bereits 1899 hingewiesen, als er schrieb: »Was aber Laages Holzschnittsprache
anlangt, so könnte es wohl sein, daß durch solche Arbeiten dem
Holzschnitt frisches verjüngendes Blut zugeführt würde.«
*
Schieflers Laage-Katalog schließt ab im Februar 1912 mit einer
Lithographie Knabe mit Maske, der unmittelbar dasselbe Thema in Der Narr
folgt. Beide Blätter, holzschnittmäßig wirkend, bedeuten
wieder ein Aufbrechen des Dämonischen und Visionären in der Zeit
vor dem Ersten Weltkrieg.
In den Jahren vorher, seit 1909, erscheinen Holzschnitte, mit denen
Laage in der Nähe van Goghscher Ausdruckswelt und Gestaltungskraft
steht. Das Kennzeichnende in der Unmittelbarkeit der Niederschrift und
Ausdrucksform van Goghs zeigt sich bei diesen Arbeiten Laages in überzeugend
eigenständiger Weise im Holzschnitt angewendet. Landschaft wird hier
von Laage ganz als Symbol gestaltet, aus den Rhythmen seiner eigenen Innenwelt
wird Linie zur rhythmischen Funktion, die Flächen werden erfüllt
mit Struktur, als den Zeichen innerer Bewegung. Es gibt im deutschen Holzschnitt
nichts der Eigenart dieser Blätter Vergleichbares. Es ist vorwiegend
das große Erlebnis der Heide, das sich in diesen Blättern niederschlägt:
Heide bei Sonnenuntergang 1909 leitet in eine Schaffensperiode über,
die mit solchen Blättern bis in die Zeit des ersten Weltkrieges reicht;
auch Rugnux und Aela und Herbstmorgen 1913 sind dafür charakteristisch.
Andere Hauptblätter dieser Periode sind Eva 1911, Karfreitag 1913,
die Wachsschnitte Selbstbildnis und Mann und Frau, oder, auch aus 1913,
der brillante Farbholzschnitt Kürbisernte. In bedeutenden Blättern
wie Mann und Weib, Porträt Sonderegger 1914 oder Der Krieg 1915 entstehen
weitere Höhepunkte.
Laage, seit 1907 in Reutlingen wohnend, hatte außer den jährlichen
Arbeits- und Studienaufenthalten in Cuxhaven und Altenwalde noch andere
Reisen unternommen. ( * Siehe Dube: E.L.Kirchner — Das graphische
Werk. München 1968. Band 1, Seite 12.)
In der Reutlinger Atmosphäre konnte er sich offenbar nicht
wohl fühlen und er trug sich deshalb immer wieder mit dem Gedanken,
von dort wegzuziehen. Zweimal schlugen solche voll Hoffnung unternommenen
Versuche fehl, 1911 in München und 1913 in Berlin. Am 28.12.1910
hatte er an Schiefler geschrieben: »Ich habe mich jetzt entschlossen,
im nächsten Herbst von hier nach München zu ziehen, wenn es nicht
schon früher geschieht. Im Mai gehe ich wieder auf recht lange Zeit
nach Altenwalde-Cuxhaven.« Zwei Reisen in die Schweiz nach Graubünden
in den Jahren 1913 und 1914 erschlossen ihm die Gebirgswelt für seinen
Holzschnitt. Es gelingt ihm, in dem oben erwähnten Rugnux und Aela
das Ungeheuere der Gebirgsmassen mit graphischen Zeichen zu durchdringen
und zu erfüllen oder in dem Farbschnitt Die Berge das urhaft Inwendige
und Dämonische solcher Landschaft sichtbar zu machen.
Im Frühjahr 1914 hielt sich Laage bei seinem Freund J. Ernst Sonderegger
(1882 bis 1956) in Paris auf. Während dieser Zeit schnitt er das großartige
Porträt S. und das Doppelbildnis Sonderegger Mann und Frau. Der Freund
selbst wurde von Laage in diesen Wochen in die Technik des Holzschnittes
eingeführt. J. Ernst Sonderegger, ein bedeutender Schweizer Künstler,
hatte Klee 1912 in Paris eingeführt, pflegte enge Verbindung mit Ensor
und war mit Kubin befreundet, der später eine umfangreiche Sammlung
von Sondereggers Holzschnitten besaß. In einem Brief, den Laage nach
der Rückkehr aus Paris an Sonderegger richtete, schrieb er, wie wertvoll
der Pariser Aufenthalt für ihn gewesen war und … wie er mir wirklich
den Blick geweitet hat. Doch hier komme ich mir wieder ganz kurzsichtig
vor, es macht die ganze Umgebung«.
In dieser Zeit, um 1913/14, erhält die Menschendarstellung in
Laages Schaffen durch den Porträtholzschnitt ein besonderes Gewicht.
»Das Schwerste wollte ich im Bildnis wagen: von innen heraus wollte
ich den Menschen gestalten, alle Flächen und Formen sollten nur dazu
dienen, dies Schwerste darin auszudrücken.« Das Werk weist eine
Reihe von Bildnissen auf, die zum Besten gehören, was der Bildnisholzschnitt
hervorgebracht hat: Dem Porträt S. folgen Bildnis J. R. (II), Berte
1917, dann 1918 Bildnis Heinrich Rebensburg (II), Knabe mit Fisch, Frau
am Fenster. Eine besondere Gruppe bilden die Bildnisse von Li Mörike
— man könnte sie die Eva Mudocci Laages nennen — mit Junge Frau und
einer Reihe anderer Fassungen bis zur Salome. Die Selbstbildnisse schließen
sich mit nicht minder bedeutenden Lösungen an. In einer Spätphase,
etwa seit 1917/18, erfährt Laages Werk noch einmal eine letzte Steigerung
in Schöpfungen wie Sonne in Wolken, Im Februar, Frau mit Äpfeln
1920, in den Monotypien von 1922 Der Kranke und Selbstbildnis sowie in
der Kreuzigung von 1923. Das graphische Werk schließt ab im Jahre
1924 mit einem Umfang von über 430 Arbeiten. Bis zu Wilhelm Laages
Tod am 3. Januar 1930 sind dann keine graphischen Arbeiten mehr entstanden.
*
Berühmt gewordene Sammler und Förderer moderner Kunst haben
sich früh der graphischen Blätter Laages angenommen. Neben Schiefler
in Hamburg sind es vor allem Hans Reinhart in Winterthur, Sonderegger in
Paris, Karl Ernst Osthaus, der Gründer des Folkwang-Museums in Hagen,
auch Heinrich Stinnes in Köln, die Laage-Holzschnitte sammelten. Lichtwark
in Hamburg förderte ihn und kaufte Bilderund graphische Blätter
Laages für die Kunsthalle. Die graphischen Sammlungen öffentlicher
Galerien und Kunsthallen nahmen Arbeiten von ihm in ihre Bestände
auf, so Hamburg, Stuttgart, Karlsruhe, Dresden, Bremen, München, Frankfurt,
Berlin, Basel, Zürich, Wien. Bedeutende und führende Galerien
hatten Ausstellungen von Laages Werken gezeigt, u. a. Commeter in Hamburg,
J. B. Neumann in Berlin und Thannhauser in München. 1911 war er in
der Internationalen Kunstausstellung in Rom vertreten. 1914 hatte Laage
den Villa-Romana-Preis erhalten, ferner eine Staatsmedaille und den Ehrenpreis
der Stadt Leipzig anläßlich der Internationalen Graphik-Ausstellung.
Schiefler hatte veröffentlicht:
»Laage gehört zu den vollwichtigen Vertretern der Epoche
von 1890 bis 1914.« Am 19. Mai 1917 schrieb er an Laage: »Ich
bin sehr froh darüber, daß ich meine Sammlung Ihrer Blätter
nach und nach so vervollständigen und runden kann. Sie wissen, wie
sehr ich Ihre Kunst schätze und wie hoch ich es Ihnen anrechne, daß
Sie unbeeinflußt von rechts und links sich immer genauer auf der
Linie halten, welche Ihnen durch Ihre ursprünglichen Anlagen gewiesen
ist. In der sicheren Einhaltung dieser Richtung beweisen Sie das, was im
Grunde für einen bedeutenden Künstler immer die Hauptsache ist
— den Charakter, wobei ich natürlich hier den Charakter im eigentlichen
Künstlerischen verstehe. So ist es Ihnen gelungen, daß Ihr Werk
als Ganzes etwas vollkommen Abgeschlossenes und in sich Gerundetes darstellt,
das sich von der Leistung jedes anderen Künstlers in einer seltenen
Selbständigkeit und Eigenartigkeit unterscheidet und allein darin
schon von hoher Bedeutung ist.«
*
Wenn nach Jahrzehnten der Vergessenheit und Nichtbeachtung nun die sichere
Distanz erreicht ist, aus der dem graphischen Werk Wilhelm Laages der rechte
Ort in der neueren deutschen Kunstgeschichte gegeben werden kann, so beginnt,
wenn auch spät, sich doch noch zu vollziehen, was im Jahre 1899 Friedrich
Dörnhöffer in den Wiener »Graphischen Künsten«
schrieb: »Sollen Prophezeiungen gewagt werden, so wäre es die,
daß man einst Laage mit Ehren unter denen nennen wird, die mithalfen,
eine individuelle deutsche Kunst zu schaffen.«
Aus: Alfred Hagenlocher -
"Wilhelm Laage, Das graphische Werk"
Mit freundlicher Genehmigung von Frau Dr. Wagner
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